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Das Inflationsgespenst – Wie lange könnte es so bleiben, wie kann man es vertreiben und was kostet es?

Dr. Klaus Härtl
Economist

Die Inflation eilt von Rekord zu Rekord. In der Eurozone könnte nächste Woche ein neues Allzeithoch berichtet werden. Analysten erwarten für den Monat September eine Teuerungsrate von 9,7%. In Deutschland könnte in naher Zukunft die Preissteigerung sogar zweistellig werden, wie die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht schreibt. Entsprechend groß ist der auf den Notenbanken lastende Druck, die Leitzinsen anzuheben – und dies schneller als von vielen erwartet. XXL-Zinsschritte von 75 oder gar 100 Basispunkten werden zur neuen Normalität, wie die Zinsentscheidungen der amerikanischen Federal Reserve (Fed) oder der schwedischen Zentralbank in der vergangenen Woche unterstreichen. Spurlos wird diese Verschärfung der Geldpolitik an der Wirtschaft aber nicht vorbeigehen. Vor einigen Monaten herrschte bei den Notenbanken noch die Hoffnung auf eine „weiche Landung“. Seit kurzem ist nun hingegen vielmehr die Rede von den unvermeidlichen Schmerzen – also Rezession und mehr Arbeitslosigkeit. Dies sei aber der notwendige Preis, um die ausufernde Inflation in den Griff zu bekommen, tönt es bei Fed und EZB.

Von daher stellen sich drei Fragen. Erstens, wann wird sich der Preisanstieg wieder normalisieren? Von alleine jedenfalls nicht, wie Entscheidungsträger bei der EZB betonten. Nichts tun ist daher keine Alternative, wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel erklärt. Zinsanhebungen sind vielmehr unumgänglich. Wie weit die Zinsen also ansteigen müssen, ist die naheliegende zweite Frage. Fed-Chef Jerome Powell deutete bereits ominös an, dass die Zinsen möglicherweise mehr als erwartet angehoben werden müssten. Ein bekannter Investor, Mark Mobuis, mutmaßte Anfang September, dass der Leitzins der Fed wohlmöglich auch 9% erreichen könnte. Und schließlich möchte man drittens gerne wissen, was dieser Kampf gegen die Rekordinflation mit immer höheren Zinsen die Wirtschaft tatsächlich kosten wird. Während sich die EZB betont optimistisch gibt, und für 2023 immer noch mit fast einem Prozent Wachstum im Euroraum rechnet, befürchten die meisten Volkswirte eine Rezession in den kommenden zwölf Monaten. Laut Deutscher Bank könnte der wirtschaftliche Einbruch 2,2% betragen. In Deutschland könnte das Minus sogar 4% ausmachen.

Zunächst zur Frage, wohin sich die Inflation in den nächsten Jahren hinbewegen wird. Die Notenbanken selbst geben zu, dass es noch eine Weile dauern wird, bis die angestrebte 2%-Marke wieder erreicht wird. Die EZB sieht die Teuerung im Euroraum selbst in 2024 noch über dieser magischen Grenze bei 2,3%. Im ungünstigen Fall, also bei anhaltend hohen Energiepreisen und nachhaltigen Lieferengpässen, könnten es selbst dann noch 2,7% sein. Für Robert Holzmann, Chef der österreichischen Notenbank und EZB-Ratsmitglied, sind auch Inflationsraten von 3% bis 4% in den nächsten fünf Jahren möglich. An den Terminmärkten wird aber davon ausgegangen, dass die Energiepreise ihren Höhepunkt bereits überschritten haben und sich in den kommenden Quartalen nach und nach normalisieren werden. Dies wäre aus Inflationssicht eine gute Nachricht, denn die Energiepreise sind maßgeblich (aber nicht ausschließlich) für den Preisanstieg verantwortlich.

Doch sicher ist dieser Rückgang der Energiepreise nicht. Manche Analysten mutmaßen, dass nach einem Winter ohne russisches Gas die Speicher fast leergeräumt sein werden. Sie wieder aufzufüllen, um für 2023/24 gerüstet zu sein, könnte daher neuen Druck auf die Energiepreise auslösen. Insbesondere dann, wenn die chinesische Volkswirtschaft sich im kommenden Jahr erholt und wieder verstärkt als Nachfrager am Energiemarkt auftritt.

Dass die Inflation nicht nur von den Energiepreisen getrieben ist, ist mittlerweile offensichtlich. Die Preise steigen auf breiter Front, wie der Rekordanstieg der sogenannten Kernrate der Inflation auf 4,3% in der Eurozone im August zeigt. Die Gefahr ist daher, dass sich die Inflationserwartungen von ihrem 2% Anker lösen und es deshalb zu einer Lohn-Preisspirale kommt. Der Fed ist es gelungen, durch ihr entschlossenes Auftreten einen Rückgang der Inflationserwartungen herbeizuführen. Laut der langjährigen Umfrage der Universität in Michigan sind die langfristigen Inflationserwartungen der Haushalte im September auf den niedrigsten Stand der letzten zwölf Monate gefallen. Die EZB hingegen sieht mit einiger Sorge, dass eine zunehmende Zahl damit rechnet, dass die Notenbank auch auf mittlere Sicht ihr 2% Ziel verfehlen wird, wie Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel erst kürzlich eingestand. Wenn die Haushalte dauerhaft von höherer Inflation ausgehen, sollte sich dies auch in höheren Lohnabschlüssen niederschlagen. Die EZB rechnet damit, dass die Gehälter im Euroraum im Schnitt in 2023 um fast 5% und im Jahr darauf um 4% ansteigen werden. Diese Schätzung könnte sich als zu niedrig erweisen.

Zu hoffen, dass ein wirtschaftlicher Abschwung ausreichen wird, um den Preisauftrieb ein Ende zu machen, dürfte trügerisch sein. Selbst der sonst eher taubenhafte EZB Vizepräsident Luis de Guindos räumte ein, dass dies alleine nicht genug sein werde, und die Geldpolitik daher ihren Beitrag leisten muss.

Es bedarf also einer Portion Glück, damit die Inflation sich wenigstens in einigen Jahren wieder der 2% Marke annähert. Und dass auch nur dann, wenn die Zinsen ausreichend stark ansteigen. Wie stark, ist auch unter Notenbankern und Volkswirten umstritten. Zur Orientierung wird daher oft auf das neutrale Zinsniveau verwiesen. Erst wenn diese Schwelle überschritten wird, dämpft die Geldpolitik die Wirtschaft und bremst damit den Preisauftrieb. Doch dieses neutrale Niveau kann nur geschätzt werden, und zuletzt haben sich diese Schätzungen eher nach oben bewegt. Aktuell wird das langfristige Leitzinsniveau im Euroraum auf etwa 1,5% bis 2% geschätzt, in den USA dürfte es sich um die 2,5% bewegen. Im Vergleich dazu rechnen Händler an den Finanzmärkten zuletzt, dass der Einlagensatz der EZB bis Juni auf 3% klettern wird. Vor wenigen Monaten war dieser Zins noch tief negativ bei -0,5%. In den USA könnten die Zinsen bis Mitte 2023 die 5% ins Visier nehmen, nachdem sie innerhalb weniger Monate um drei Prozentpunkte auf 3,25% angehoben wurden.

In den 1980er Jahren erhöhte die Fed den Leitzins zeitweise auf 20%, um der damals ausufernden Inflation zu begegnen. Ganz so hoch wie damals werden die Leitzinsen dieses Mal wohl nicht steigen müssen. Doch der Blick auf die Vergangenheit ist trotzdem lehrreich. Denn die Fed beging mehrmals den Fehler, die Leitzinsen zu senken, sobald die Inflation den Anschein machte sich zu normalisieren. Als dann die Preise wieder stiegen, musste die Notenbank erneut die Geldpolitik verschärfen. Insgesamt viermal musste die Fed zwischen 1980 und 1981 den Leitzins auf 20% anheben, bevor die Inflation endgültig in die Schranken gewiesen wurde. Um diesen Fehler nicht zu wiederholen, betont Fed-Chef Jerome Powell regelmäßig, die Leitzinsen solange hochhalten zu wollen, bis „der Job erledigt ist“. Denn wie die Geschichte lehrt, kann ein verfrühtes Absenken der Leitzinsen der Wirtschaft teuer zu stehen kommen.

Die US Konjunktur erlebte zwischen 1980 und 1982 zwei aufeinanderfolgende Rezessionen, die Arbeitslosenrate stieg mit kurzer Unterbrechung in dieser Zeit unaufhörlich um fast fünf Prozentpunkte auf 10,7%. Im Vergleich dazu rechnen sowohl Fed als auch EZB immer noch mit moderaten Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr. Angesichts hartnäckig hoher Inflation – zumindest in 2023 – und einer deutlich verschärften Geldpolitik, dürfte sich manch einer fragen, ob diese Vorhersagen nicht etwas zu optimistisch sind. Zumal die Arbeitslosenraten laut Notenbankprognosen bis 2024 kaum ansteigen sollen. Im Euroraum wird ein Anstieg von nur 0,3 Prozentpunkten, in den USA gerade einmal von 0,6 Prozentpunkten vorhergesagt. Ist diese Erwartung realistisch? Beschränkt man sich auf den Euroraum und betrachtet die letzten drei Rezessionen – globale Finanzkrise, Euro Schuldenkrise und Covid-19 – so stieg die Arbeitslosenrate vom Tiefpunkt bis zur Spitze regelmäßig um 1,4 bis 2 Prozentpunkte.

Was bedeutet dies alles nun in Bezug auf die eingangs gestellten Fragen? Die Inflation wird sich wohl tatsächlich normalisieren, also sich wieder in Richtung 2% bewegen. Doch dazu gehört eine Portion Glück und eine Geldpolitik, die hartnäckig ist und nicht verfrüht vom eingeschlagenen Kurs abweicht. Die Zinsen müssten dafür wohl nicht viel weiter steigen, als am Markt bereits eingepreist ist. Wichtiger ist, dass sie solange hoch bleiben, bis der „Job“ der Notenbank eben erledigt ist. Der Preis dafür in Gestalt höherer Arbeitslosigkeit dürfte aber etwas höher ausfallen, als es die Geldpolitiker bislang erwarten.

Manche Leser werden sich noch an den berühmten Satz des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt erinnern. Dieser sagte während seines Wahlkampfs im Jahr 1972, dass Deutschland wohl eher 5% Preisanstieg vertragen könne als 5% Arbeitslosigkeit. Die Notenbanken hingegen vertreten die Meinung, dass es genau umgekehrt sei. Wer von beiden recht hat, dürfte sich im nächsten Jahr zeigen.