Die zukünftige Inflationsentwicklung spielt eine entscheidende Rolle bei der Zinspolitik der EZB. Erachtet die Bank die erwartete Inflation als zu gering, ist eines ihrer Standardinstrumente, die Leitzinsen zu senken. Die billige Vergabe von Krediten soll Investitionen und Konsum stärken, was wiederum die Nachfrageseite der Wirtschaft ankurbelt. Damit soll verhindert werden, dass sich die Inflationsrate weiter von ihrem Ziel entfernt. Momentan senkt die EZB zwar ihre Zinsen noch nicht, aber sie verlängert den Zeithorizont bis zu einer Erhöhung. Bei ihrem jüngsten Treffen verkündete die EZB, dass sie die Leitzinsen bis mindestens zur Jahresmitte 2020 nicht erhöhen will. Zuvor lag dieses Datum noch am Jahresende 2019.
Aufgrund der niedrigen erwarteten Inflation und einer sich abkühlenden Weltwirtschaft, kommt verstärkt die Forderung auf, die Zinsen weiter zu senken. Marktteilnehmer erwarten inzwischen mit einer Wahrscheinlichkeit von 58 Prozent, dass die Leitzinsen in Europa innerhalb dieses Jahres um einen Schritt gesenkt werden. Das Problem der Negativ-Zinsen für Banken ist allerdings, dass sie überschüssige Liquidität zu negativen Zinsen bei der Zentralbank einlegen müssen. In Deutschland beklagen daher einige Banken, dass das Niedrigzinsniveau an ihren Gewinnen zehrt. Sie fordern ein Ende der Negativzinsen. Denn der Einlagensatz liegt seit März 2016 bei minus 0,4 Prozent – eine weitere Senkung der Leitzinsen würde dieses Problem der Banken wohl zusätzlich verschärfen.
Als Gegengewichte wurden verschiedene neue Instrumente für Notenbanken diskutiert. So brachte der Chef der finnischen Notenbank, Olli Rehn, die Einführung “möglicher Linderungsmaßnahmen” wieder ins Gespräch. Diese Äußerung dürfte auf den so genannten Staffelzins abzielen. Dies könnte zum Beispiel ein Freibetrag sein, den die Banken bei der EZB parken können, ohne darauf Strafzinsen bezahlen zu müssen. In Japan und der Schweiz werden bereits heute, Negativzinsen auf Einlagen erst ab einem bestimmten Betrag fällig. In der Schweiz liegt dieser Freibetrag beispielsweise beim 20-fachen des Mindestreservesolls. Die Aussage ist auch erwähnenswert, da Olli Rehn als ein möglicher Nachfolger des im Herbst aus dem Amt scheidenden EZB-Chefs Mario Draghi gehandelt wird.
Mario Draghi selbst hatte nach der jüngsten Zinssitzung noch betont: "Angesichts des eskalierenden Zollstreits und der Brexit-Hängepartie hält sich die EZB weitere geldpolitische Optionen offen. Neben Zinssenkungen sind Wiederaufnahme der Anleihenkäufe oder Ausweitung des Zinsausblicks weitere Handlungsoptionen."
Eine andere Möglichkeit der Problembewältigung wäre, Ziele zu erneuern – anstatt alte Ziele mit anderen Instrumenten zu verfolgen. So sagte EZB-Ratsmitglied und Chef der österreichischen Notenbank, Ewald Nowotny, dem „Handelsblatt“: "Ich persönlich glaube, dass es vernünftig wäre, etwas mehr Flexibilität zu praktizieren, wie etwa die israelische oder tschechische Notenbank." Er sei dafür, das Zwei-Prozent-Ziel zu erhalten, sagte Nowotny, "aber mit einem Korridor von 0,5 oder einem Prozent auf oder ab". Dies würde der EZB den Druck nehmen, das Inflationsziel exakt zu erreichen. Somit könnte sie ihren Fokus vermehrt auf andere Ziele lenken.
Derartige Diskussionen um neue Instrumente bzw. Ziele sind insbesondere hinsichtlich des in diesem Jahr anstehenden EZB-Führungswechsels interessant. Im Vorfeld dieser Neubesetzung liegen strategische Überlegungen nahe.
Seit der Europawahl begann das Ringen um die drei EU-Spitzenjobs. Neben der Zentralbankpräsidentschaft sind auch noch die Kommissions- und die Ratspräsidentschaft neu zu besetzen. Als ein möglicher Nachfolger wird der Chef der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, gehandelt. In Fachkreisen gilt er eher als Hardliner im Hinblick auf eine straffere Geldpolitik. "Eine außergewöhnlich expansive Ausrichtung der Geldpolitik kann kein Dauerzustand sein – auch, weil sie mit Risiken und Nebenwirkungen einhergeht", so Weidmann. Für ihn spricht die Tatsache, dass nach dem Niederländer Wim Duisenberg, dem Franzosen Jean-Claude Trichet und dem Italiener Mario Draghi noch nie ein Deutscher an der Spitze der EZB stand. Es wird jedoch behauptet, dass seine Attacken gegen die Geldpolitik Mario Draghis seine Chancen verschlechtert haben.
In einer Umfrage unter europäischen Volkswirten wird klar, dass Jens Weidmann nur geringe Chancen auf den Spitzenposten zugesprochen werden. Vielmehr gilt der finnische Notenbanker Erkki Liikanen als Favorit. Auch dem französischen Notenbank-Chef François Villeroy de Galhau werden gute Chancen eingeräumt. Weiterhin stehen der finnische Notenbank-Präsident Olli Rehn und das französische EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Coeuré oben auf der Liste. Jens Weidmann rangiert hingegen nur auf Rang fünf.
Wer nun den EU-Spitzenjob erhält, hängt sicherlich auch von der Besetzung der anderen zwei Positionen ab. Eine Zweifachbesetzung durch dasselbe Land scheint hierbei eher unwahrscheinlich. Beim EU Gipfel am Ende dieser Woche wird wohl intensiv über dieses Thema beraten werden. Denn die Besetzung des Zentralbankpräsidenten könnte starke Auswirkungen auf die Einführung der diskutierten Instrumente und Ziele der europäischen Geldpolitik haben.