In der vergangenen Woche aktualisierte der Internationalen Währungsfonds (IWF) seinen vielbeachteten halbjährlichen Weltwirtschaftsausblick. Dabei betonte die geschäftsführende Direktorin, Kristalina Georgieva, dass die russische Invasion in der Ukraine ein „massiver Rückschlag“ für die Weltwirtschaft sei. Daher senkte der Fonds seine Prognose für das globale Wachstum deutlich ab. Der Zuwachs wird sich voraussichtlich von geschätzten 6,1% im Jahr 2021 auf 3,6% in den Jahren 2022 und 2023 abschwächen. Das sind 0,8 bzw. 0,2 Prozentpunkte weniger für 2022 und 2023 als bei der letzten Prognose im Januar noch prognostiziert worden war.
Allerdings fielen die Revisionen in den einzelnen Weltregionen sehr unterschiedlich aus. Während in Europa, insbesondere in Deutschland, die Kürzungen im Vergleich zur Januar-Prognose relativ hoch ausfielen, kamen die USA besser davon. So wurde die Wachstumsprognose in diesem Jahr für Deutschland um 1,7 Prozentpunkte revidiert (Eurozone: -1,1 Prozentpunkte). Vergleichsweise milde korrigierte der IWF dagegen seine Erwartungen für die USA um 0,3 Prozentpunkte nach unten. Insgesamt wird nun damit gerechnet, dass die Eurozone in diesem Jahr um 2,8% wächst, während die US-Wirtschaft um 3,7% zulegen kann.
Ähnliche Ergebnisse ergab der Ausblick der Industrieländervereinigung OECD vom März, der das weltweite Wirtschaftswachstum in diesem Jahr um mehr als einen Prozentpunkt niedriger ausfallen sieht als noch vor dem Konflikt prognostiziert. Auch bei der OECD sind die europäischen Volkswirtschaften insgesamt am stärksten betroffen. Dies spiegelt den stärkeren Anstieg der Gaspreise in Europa als in anderen Teilen der Welt und die relative Stärke der Geschäfts- und Energieverflechtungen mit Russland wider. Die USA hingegen haben schwächere Handels- und Investitionsbeziehungen zu Russland. Außerdem sind die Vereinigten Staaten selbst Ölproduzent, was durch den gestiegenen Preis und die damit einhergehenden Einnahmen die Wirtschaft stützt. Dennoch wird das Wachstum aber auch dort durch die schwächere globale Nachfrage und die Auswirkungen der höheren Preise auf die Einkommen und Ausgaben der Haushalte beeinträchtigt.
EZB-Präsidentin Christine Lagarde bestätigte diese Divergenz jüngst und sagte, dass sich die Wirtschaft des Euroraums in einem anderen Tempo als die der USA bewege. Das zeigte jüngst auch der Konjunkturbericht der amerikanischen Zentralbank Fed, dem zufolge die US-Wirtschaft seit Mitte Februar in einem moderaten Tempo gewachsen ist. Damit schätzt die Fed die Lage etwas positiver ein als zuletzt. Bei ihrem Bericht im März hatte sie noch von einem bescheidenen bis moderaten Wachstum gesprochen.
Bei diesen Wachstumsprognosen handelt es sich allerdings nur um sogenannte Basisszenarien, bei denen der aktuelle Stand der Dinge berücksichtigt wird. Beispielsweise gehen dabei die Institute von fortgesetzten Gaslieferungen nach Europa aus. „Das Wachstum könnte sich weiter verlangsamen, während die Inflation unsere Prognosen übertreffen könnte – zum Beispiel falls Sanktionen auf Russlands Energieexporte ausgeweitet werden“, erklärte dazu IWF-Chefvolkswirt Pierre-Olivier Gourinchas.
Inzwischen liegen nun auch Szenarien von Forschungseinrichtungen vor, die versuchen zu bestimmen, wie sich die Wirtschaft bei einem sofortigen Stopp russischer Gaslieferungen entwickeln würde. Für Deutschland haben dies beispielsweise die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten innerhalb ihres „Alternativszenario“ durchgerechnet. In einem solchen Fall würde das deutsche BIP in 2022 nur noch um 1,9% (anstatt 2,7%) wachsen, 2023 würde es sogar um 2,3% schrumpfen (anstatt 3,1% wachsen). Laut dem Gutachten würde Deutschland bei einer sofortigen Unterbrechung der russischen Gaslieferungen in beiden Jahren insgesamt 220 Mrd. Euro an Wirtschaftsleistung verlieren. „Bei einem Stopp der Gaslieferungen droht der deutschen Wirtschaft eine scharfe Rezession“, warnte der Vizepräsident und Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths.
Auch die Deutsche Bundesbank kommt bei einer jüngsten Veröffentlichung zu dem Ergebnis, dass eine weitere Zuspitzung des Ukraine-Kriegs und verschärfte Sanktionen gegen Russland die deutsche Wirtschaft hart treffen würden: „Im verschärften Krisenszenario würde das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) im laufenden Jahr gegenüber dem Jahr 2021 um knapp zwei Prozent zurückgehen“. Bei der Berechnung gehen die Experten der Bundesbank unter anderem davon aus, dass die EU als Reaktion auf eine Eskalation des Ukraine-Kriegs ein Öl- und Gasembargo beschließt. Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs werden sich aber auch auf die Inflation niederschlagen. In der Eurozone schätzt der Währungsfonds die Teuerungsrate in diesem Jahr auf 5,3%. In Deutschland könnten es 5,5% sein. Aber auch hier spiegelt sich der Unterschied in der Entwicklung zwischen den USA und der Eurozone wider. Denn die schneller wachsende US-Wirtschaft und der damit einhergehende boomende Arbeitsmarkt erzeugen, über den Energiepreisanstieg hinaus, zusätzlichen Preisdruck. So rechnet der IWF in den USA sogar mit einer Inflation von 7,7% in diesem Jahr.
Schließlich schlägt sich diese Divergenz in der ökonomischen Entwicklung und bei der Inflation auf die Zinsentwicklung in den Währungsräumen nieder. Die US-Notenbank Fed hat in Reaktion auf den starken Preisanstieg bereits ihre Ankäufe von Vermögenswerten gestoppt und die Zinssätze im März um 25 Basispunkte erhöht. Die Europäische Zentralbank bleibt derweil aufgrund der ökonomischen Unsicherheit vorsichtiger. Auf ihrer letzten Sitzung hielt sie an ihrem Zeitplan für die schrittweise Rückführung der Anleihekäufe im dritten Quartal zwar fest, nannte aber keinen festen Termin für die Anhebung der Zinssätze. EZB-Präsidentin Christine Lagarde wies jüngst sogar auf den Unterschied in der Geldpolitik hin und sagte, dass die Politik der EZB eher auf eine Normalisierung als auf eine Straffung ausgerichtet sei.
Die Märkte spekulieren aktuell darauf, dass die amerikanische Notenbank auf jeder ihrer nächsten drei Sitzungen eine besonders große Zinserhöhung um 0,5 Prozentpunkte vornehmen könnte. Solch eine aggressive und schnelle Zinserhöhung gibt in den Augen einiger Beobachter Anlass zur Sorge, dass es die Fed „übertreiben“ und somit die US-Wirtschaft deutlich darunter leiden könnte. Damit würde es dann durchaus wieder zu einem Schließen der Divergenz zwischen der USA und der Eurozone kommen. Leider wäre dies nicht begründet durch ein wirtschaftliches Aufholen Europas, sondern durch eine Abkühlung der US-Wirtschaft aufgrund der (zu) hohen Zinsen.