Einige ökonomische Frühindikatoren bewegen sich auf historisch hohem Niveau. Viele Länder in Europa und in Nordamerika lockern gerade die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Virus. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission schrauben ihre Konjunkturprognosen nach oben. Gleichzeitig erreichen die Aktienmärkte neue Höchststände. Auf den ersten Blick scheint die schlimmste Phase der Krise überwunden. Der sich verbessernde wirtschaftlicher Ausblick sollte die Risiken bezüglich Finanzstabilität somit eigentlich senken. Vergangene Woche veröffentlichte die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Finanzstabilitätsbericht für die Eurozone, der allerdings aufzeigt, welche Gefahren Europas Währungshüter trotz der sich aufhellenden Stimmung weiterhin sehen.
Schulden und zunehmende Insolvenzen
Insgesamt stimmt die EZB mit dem positiven Wirtschaftsausblick überein und betont, dass zunehmende Impfgeschwindigkeit zur ökonomischen Erholung führe. Laut dem Bericht häufen sich die Risiken in einigen Ländern und Wirtschaftssektoren der Eurozone, bedingt durch ungleichmäßige Pandemie-Auswirkungen. Die Kosten monatelanger Lockdowns und die Abhängigkeit von politischer Unterstützung konzentrierten sich zunehmend auf spezielle Wirtschaftssektoren bzw. Länder, in denen die Erholung langsamer erfolgt. So befindet sich beispielsweise das verarbeitende Gewerbe seit der Erholung im letzten Sommer beständig im Wachstumsbereich, während der Dienstleistungssektor weiterhin unter den Eindämmungsmaßnahmen leidet.
Die Verschuldung der Unternehmen hat daher insbesondere in den stark betroffenen Sektoren zugenommen. Insbesondere hier nahmen Unternehmen Unterstützung durch den Staat in Anspruch. In Ländern, wie beispielsweise Spanien mit seinem großen Tourismus-Sektor, wird der Ausstieg aus dieser Politik daher schwerer fallen. Das zeigt sich auch in Deutschland: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier versprach kürzlich, die Corona-Hilfen zu verlängern. Sobald der Ausstieg stattfindet, befürchtet die EZB einen deutlichen Anstieg der Unternehmensinsolvenzen, was wiederum den Bankensektor durch ausfallende Kredite treffen könnte.
Neubewertung von Vermögenswerten
Der anhaltende Bedarf an politischer Unterstützung kann zudem zu mittelfristigen Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Staatsschulden beitragen. Die Regierungen nutzten die bisher günstigen Finanzierungsbedingungen, um die Laufzeit der Schulden zu verlängern und von niedrigen Renditen zu profitieren. Der jüngste Anstieg der Zinssätze könnte diesen Vorteil jedoch wieder begrenzen.
Zudem richtete der Zinsanstieg den Fokus verstärkt auf das Risiko der Neubewertung von Vermögenswerten. Als die US-Zinsen in den ersten Monaten des Jahres auf bis zu 1,6% stiegen und die globalen Anleihemärkte unter Verkaufsdruck gerieten, erlebten die Aktienmärkte eine erneute Rally. Diese war von einem Umschichten begleitet: Während die zuvor erfolgreichen Papiere der Technologiebranche verkauft wurden, erfuhren zyklische Werte einen Aufschwung. Erwarten Investoren jedoch eine Straffung der Geldpolitik als Reaktion der Zentralbanken auf die schnell steigenden Zinsen, könnte es zu einer umfassenderen Neubewertung von Aktien kommen. Empfindliche Verluste wären die Folge. „Eine Korrektur von 10% an den US-Aktienmärkten könnte zu einer deutlichen Verschärfung der Finanzierungsbedingungen im Euroraum führen“. Laut Bericht entspräche ihr Schweregrad einem Drittel der Verschärfung nach dem Corona-Schock vom März 2020.
Unsicherheiten bei Nichtbanken
Die Bewertung der Banken an den Börsen hat sich inzwischen wieder verbessert. Jedoch bleiben die Herausforderungen der Rentabilität laut Prognosen von Marktanalysten bestehen. Im vergangen Jahr begründete sich der Rückgang der Banken-Ergebnisse unter anderem durch Rückstellungen für mögliche Kreditverluste und geringere Einkünfte aus dem Kreditgeschäft. Eigentlich sollte die Aussicht auf wirtschaftliche Erholung und steigende Renditen den Banken zugute kommen. Die jüngste Verschärfung der Kreditvergabestandards und die ungewisse Nachfrage könnten die künftigen Krediterträge jedoch weiterhin belasten.
Laut EZB können Abhängigkeiten zwischen Staaten, (Nicht-)Banken und Unternehmen, das Risiko für die Finanzstabilität erhöhen. Nichtbanken, wie Investmentfonds und Versicherer, reagieren aufgrund der längeren Laufzeit ihres Anleihenportfolios jedoch empfindlicher auf einen Anstieg der Zinsen. Sie sind dazu stärker dem US-Markt ausgesetzt. Außerdem sind Nichtbanken laut EZB weiterhin massiv in Unternehmen mit schwachen Fundamentaldaten engagiert. Unternehmensinsolvenzen werden sich voraussichtlich gegenüber ihren durch staatliche Unterstützungsprogramme verursachten Tiefs normalisieren – und möglicherweise nach deren Rücknahme wieder zunehmen. Probleme bei hoch verschuldeten Unternehmen können sich daher auch über Nichtbanken auf andere Teile der Wirtschaft und den Finanzsektor auswirken.
Klimarisiken neu im Fokus
Besonders interessant ist die erstmalige Aufnahme von Klimarisiken in den Finanzstabilitätsbericht. Dabei werden klimabedingte Ereignisse, wie extreme Wetterlagen, aber auch „Transitionsrisiken“ wie der Umbau der Wirtschaft weg vom CO2, bewertet. Laut EZB sind Finanzinstitute im Euroraum erheblichen klimarelevanten Risiken ausgesetzt. Aber wirksame umweltfreundliche Finanzierungen können dazu beitragen, einen geordneten Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu fördern. Die Risiken scheinen sich laut Bericht, in einigen Wirtschaftssektoren, geografischen Regionen und einzelnen Banken zu konzentrieren. Vorläufige Ergebnisse eines Klimastresstests zeigen einen klaren Vorteil für das Finanzsystem, wenn frühzeitig gegen den Klimawandel vorgegangen wird. Laut EZB sind vor allem Minen- und Energiekonzerne stark von CO2-Emissionen abhängig. Aber auch das produzierende Gewerbe weist innerhalb der Wertschöpfungsketten CO2-Emissionen aus.
Gleichzeitig wächst laut EZB das Interesse der Anleger an „Green Finance“ weiter. Dies könnte den Banken ein neues Geschäftsfeld eröffnen. Jedoch müssen so genannte Greenwashing-Bedenken angegangen werden, um effiziente Marktmechanismen zu fördern. Sowohl die Risikobewertung als auch die Zuweisung von Finanzmitteln zur Förderung des Übergangs zu einer nachhaltigeren Wirtschaft können von verbesserten Angaben profitieren. Dazu zählen zukunftsgerichtete Emissionsziele der Unternehmen, bessere Daten und verbesserte Methoden zur Risikobewertung, so die EZB.
Komplizierter geldpolitischer Ausblick
Zusammengefasst sieht die Notenbank noch eine ganze Reihe an Risiken im Finanzsektor, die es trotz der Erholung zu beobachten gilt. Am 10. Juni trifft sich der EZB-Rat zu seiner nächsten Sitzung, bei der auch neue Wachstums- und Inflationsprognosen veröffentlicht werden. Aufgrund der positiven wirtschaftlichen Aussichten und der anziehenden Inflationserwartungen wird der Rat sicherlich diskutieren, ob bzw. wann mit dem Rückfahren der ultra-lockeren Geldpolitik begonnen werden kann. Der Vizepräsident der EZB, Luis de Guindos, sagte dazu, dass die politischen Entscheidungsträger eine Vielzahl von Unsicherheiten berücksichtigen werden, einschließlich neuer Virusstämme und Risiken für einige Schwellenländer. Er wies außerdem auf die zunehmenden Risiken hin, die im Finanzstabilitätsbericht angesprochen wurden. Der Bericht ist also nicht nur eine reine Bestandsaufnahme der aktuellen Gefahren, sondern er gibt der EZB auch eine weitere Rechtfertigung, ihre geldpolitischen Zügel, trotz des Drucks einiger konservativer Ratsmitglieder, weiterhin locker zu lassen.