Über den Sinn und Zweck von Fiskalregeln lässt sich trefflich streiten. Gäbe es keine Regeln, wäre dem staatlichen Ausgabendrang – oft mit tatkräftiger Mithilfe der Notenbank und gerne auch kurz bevor Wahlen anstehen – Tür und Tor geöffnet. Und wenn es Regeln gibt, so wird entweder beklagt, dass sie den staatlichen Handlungsspielraum zu sehr einschränken. Oder dass das vermeintliche Korsett zu locker sitzt, also zu viele Freiheitsgrade aufweist und Verstöße gegen etwaige Fiskalregeln ohnehin kaum geahndet werden. Ähnlich ergeht es den Fiskalregeln der Europäischen Union. Obgleich sie seit ihrer Einführung im Jahr 1993 immer wieder verändert wurden, ist doch niemand mit dem Status quo wirklich zufrieden.
Zu Beginn der Pandemie, im Frühling 2020, beschloss die Europäische Union, den Stabilitäts- und Wachstumspakt auszusetzen, um den Mitgliedsstaaten milliardenschwere Wirtschaftshilfen zu ermöglichen. Dies wäre mit den Regeln, die die jährliche Neuverschuldung auf 3% begrenzen und eine Gesamtverschuldung von höchsten 60% vorsehen, schwierig geworden. Doch der durch Corona verursachte Einbruch der Wirtschaft ist weitestgehend wieder aufgeholt. Selbst die Europäische Zentralbank schickt sich an, in den nächsten Monaten ihr Notfall-Wertpapierkaufprogramm einzustellen und den Einlagensatz von -0,5% bis September wieder auf null zurückzuführen.
Höchste Zeit also für Brüssel, auch mit Blick auf die Fiskalregeln den Krisenmodus zu beenden. Da dieser Schritt schon seit längerem – je nach Perspektive – erhofft oder befürchtet worden ist, gab es in den vergangenen Monaten eine Reihe von Vorschlägen, wie das Regelwerk modifiziert werden könnte. Die Ideen beinhalten unter anderem die Anhebung der Schuldenobergrenze von 60% auf 100% sowie das Ausklammern politisch gewollter Staatsausgaben. Dazu zählen etwa Investitionen mit Blick auf den Klimawandel, oder in jüngerer Vergangenheit Ausgaben für Verteidigung und Energiesicherheit. Aus diesem Grund war mit Spannung erwartet worden, was die EU Kommission im Mai diesbezüglich verkünden würde. Allgemein erwartet wurde die Wiedereinführung der Fiskalregeln für Anfang 2023, wenn auch in modifizierter Form. Denn dass Länder wie Italien oder Frankreich, mit einem Schuldenstand von deutlich über 100% des Bruttoinlandprodukts in einem realistischen Zeitraum das Ziel von 60% erreichen können oder wollen, erscheint recht unwahrscheinlich.
Aber der Krieg in der Ukraine hat diese Erwartungen ad acta geführt. Wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit hat die EU Kommission die Wachstumsaussichten deutlich nach unten korrigiert. Sie erwartet in diesem Jahr statt der zuvor prognostizierten 4% nur noch einen Anstieg des Bruttoinlandprodukts in der Eurozone und in der EU um 2,7%. Aus diesem Grund sollen auch die EU Fiskalregeln bis Ende 2023 ausgesetzt bleiben. Die Kommission will den Mitgliedsstaaten einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten, für den es einen Konsens gäbe. Die EU-Kommission rechnet nicht mit dem Widerstand Deutschlands, Österreichs oder anderer als sparsam geltender Länder.
Sind daher nun die Schleusen für erneute milliardenschwere Ausgaben geöffnet? Der deutsche Finanzminister scheint dies zu befürchten. In einem Interview mahnt Christian Lindner, dass die Aussetzung der Fiskalregeln für ein weiteres Jahr keine Entschuldigung sein sollte, an der lockeren Ausgabenpolitik festzuhalten. Stattdessen käme es darauf an, die Haushaltslöcher zu stopfen und Signale für mehr Wachstum zu senden.
Doch ganz alleine steht Herr Lindner mit dieser Sichtweise nicht da. Selbst der italienische Finanzminister Daniele Franco erklärte nach dem G-7 Treffen seiner Amtskollegen, dass sein Land fortfahren wolle, die Staatsschulden deutlich zu verringern. Portugals Finanzminister Fernando Medina versprach, den Schuldenabbau zum strategischen Ziel zu machen. Ähnlich klang es bei dem neu ernannten französischen Minister für den Staatshaushalt, Gabriel Attal. Er unterstrich, dass Frankreich auf dem Weg zu niedrigeren Schulden bleiben müsse, weil dies ausschlaggebend sei für die Solidität der Wirtschaft, für das Vertrauen in sein Land und für die Zukunft der jungen Generationen.
All diese hehren Worte haben natürlich die Währungshüter im Frankfurt mit im Blick. Die anstehende Normalisierung der Geldpolitik bedeutet auch das Ende des extremen Niedrigzinsumfelds. Vorbei also die Zeiten, als sich die Staaten der Eurozone zu historisch niedrigen Zinsen finanzieren konnten. Ebenfalls vorbei ist vorerst die Zeit äußerst hoher Wachstumsraten. Zuwächse des Bruttoinlandprodukts in Italien von 6,6% und in Frankreich von 7% im Vorjahr spiegeln die Aufholjagd nach dem Pandemiejahr 2020 wider und werden sich so schnell nicht wiederholen. Niedrigeres Wachstum, höhere Zinsen, und ab 2023 hoffentlich auch wieder kleinere Inflationsraten werden es den Staaten schwierig machen, die hohen Schuldenberge rasch abzutragen.
Dies alles verlangt vermutlich schmerzhafte Einschnitte bei den Staatsausgaben, wenn es die Finanzminister ernst meinen mit der erklärten Liebe zur finanzwirtschaftlichen Solidität. So hat etwa der französische Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau dazu aufgerufen, dass die Staatsausgaben in seinem Land nur noch mit 0,5% wachsen sollten. Das wäre nur halb so viel wie in der davorliegenden Dekade. Portugals Notenbankchef verwies mahnend auf den starken Anstieg der Beschäftigung im öffentlichen Sektor in den vergangenen zwei Jahren.
Ob der politische Wille für einschneidende Maßnahmen vorhanden ist, muss sich erst noch zeigen. In Frankreich neigt eine nicht unbeträchtliche Zahl der Wähler dem extremen linken und rechten Parteienspektrum zu. Beide Lager halten nicht viel davon, sich von Brüssel einschränken zu lassen. Auch Italien wählt in 2023 eine neue Regierung. Schon jetzt bereiten sich die Parteien im Belpaese auf den Wahlkampf vor und untergraben die Autorität von Noch-Ministerpräsident Mario Draghi, wie sich am aktuellen Streit über die geplante Reform des Wettbewerbsrechts zeigt. Herr Draghi mahnte bereits, dass eine weitere Verzögerung bei der Verabschiedung des Gesetzes über den Mai hinaus die Auszahlung weiterer Gelder aus dem EU Wiederaufbaufonds gefährden könne. Ähnlich kompliziert ist die Lage in Spanien. In 2021 konnte sich die Minderheitsregierung zu einer Reform des Rentensystems durchringen. Doch die Kopplung der Rentenhöhe an die Inflation würde das Haushaltsdefizit in 2023 um etwa 11 Mrd. Euro aufblähen und hat in Brüssel daher Zweifel an der Reform geweckt, wie die spanische Zeitung El Pais berichtet. Dies könnte die Auszahlung von EU Mitteln im kommenden Jahr gefährden. Doch ohne diese Gelder wird es den hochverschuldeten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union schwerfallen, die geplanten öffentlichen Investitionen zu stemmen.
Fraglich ist auch, ob der Leidensdruck, der auf den Regierungen lastet, bereits hoch genug ist. Ökonomen der US Bank Morgan Stanley wiesen erst kürzlich darauf hin, dass es einige Zeit dauern könnte, bis sich der Druck auf die Regierungen bemerkbar macht, da die Langfristigkeit der Staatsschulden eine gewisse Isolierung bietet. Ein Stopp der EZB-Anleihekäufe und bevorstehende Zinserhöhungen würden sich nur “über einen längeren Zeitraum” auswirken. Anders hingegen die Sicht des Gouverneurs der französischen Zentralbank. Herr Villeroy erwartet, dass höhere Zinssätze letztlich Druck auf die Regierungen ausüben werden, die öffentlichen Finanzen zu sanieren.
Ganz sicher scheint sich die EZB aber nicht zu sein. Für den Fall, dass die Anleiherenditen der schwächeren Volkswirtschaften des Euroraums in die Höhe schnellen, arbeiten EZB-Vertreter an einem Kriseninstrument, wie seit einigen Wochen berichtet wird. Details hierzu sind noch nicht bekannt. Doch wenn ernsthaft Zweifel an der Schuldentragfähigkeit der Staaten aufflammen, könnte die Notenbank feststellen, dass ihr Handlungsspielraum bei der Inflationsbekämpfung kleiner ist als gedacht. Dieses Dilemma hat der Chefökonom der Allianz erst kürzlich trefflich zusammengefasst: „Es ist schwierig, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die Zentralbanken die Zinsen wirklich erhöhen können, wie sie wollen.”