Hotline:  089 588 055 491

Es hätte so schön sein können – Ein ökonomischer Rückblick auf das Jahr 2022 und was und noch bevorstehen könnte

Dr. Klaus Härtl
Economist

Eigentlich hätte das abgelaufene Jahr 2022 so schön sein können. Zu Jahresbeginn waren die Prognosen für das Wirtschaftswachstum noch sehr optimistisch. Damals wurde für die Eurozone noch ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von über 4% in diesem Jahr prognostiziert, gefolgt von ca. 2,5% in 2023. Doch im Jahresverlauf haben sich die Wachstumserwartungen für 2022 und 2023 immer weiter eingetrübt. Von Bloomberg befragte Analysten rechnen inzwischen damit, dass die Wirtschaft der Eurozone in diesem Jahr lediglich um 3,2% zulegt, während sie in 2023 sogar um 0,1% schrumpfen könnte. Einer der Hauptursachen war der Kriegsbeginn in der Ukraine im Februar 2022 mit den bekannten Auswirkungen auf die Energiepreise, die Inflation und generelle Unsicherheit. Seit einigen Monaten erwarten daher 80% der von der Nachrichtenagentur Bloomberg befragten Volkswirte eine Rezession im Euroraum innerhalb der nächsten 12 Monate. Zu Jahresbeginn lag dieser Wert noch bei 20%.

Eine der ökonomischen Hauptthematiken im vergangenen Jahr war der Anstieg der Inflation. Die Notenbanken haben sich daher mittlerweile von der Idee verabschiedet, dass die Inflation „transitorisch“, also vorübergehend, sei. Eine Reihe nicht enden wollender Schocks, wie Pandemie, Lieferengpässe, die Wiederöffnung der Wirtschaft, und der Krieg in der Ukraine ließen die Inflation im Jahresverlauf auf ungeahnte Höhen steigen. Die EZB geht davon aus, dass die Inflation in der Eurozone dieses Jahr bei 8,1% liegen wird. Diese Annahme könnte sich sogar als zu optimistisch erweisen, denn die Mehrheit der Analysten geht in Umfragen inzwischen von 8,5% aus. Insbesondere die explodierenden Energiepreise haben wesentlich zur rekordhohen Teuerung beigetragen. Aber der Preisanstieg ist inzwischen auch recht breit angelegt. Über 50% der Güter und Dienstleistungen des Warenkorbs der Eurozone weisen aktuell Preissteigerungen von über 6% auf. Außerdem stieg im Oktober die Kernrate der Inflation, welche Energie- und Nahrungsmittelpreise ausschließt, im Euroraum auf 5,0%. Dies war der höchste je verzeichnete Wert.

Aufgrund der Inflationsentwicklung kannten die Zinsen nur eine Richtung, nämlich nach oben. Die Leitzinsen haben sich im Jahresverlauf innerhalb kurzer Zeit deutlich erhöht, da die Notenbanken sich mehr um die Inflation sorgten als um das Rezessionsrisiko. Das Tempo der Zinsanstiege war dabei deutlich schneller als anfänglich von den Notenbanken signalisiert. Mittlerweile sind XXL-Zinsschritte in Höhe von 75 Basispunkten nicht mehr ungewöhnlich, „normal“ wären hingegen Anhebungen um 25 Basispunkte. Gleichzeitig haben die Zentralbanken damit aufgehört, (Staats-) Anleihen an den Kapitalmärkten aufzukaufen. Durch den Leitzinsanstieg und dem Stopp des Erwerbs von Staatsanleihen bzw. deren Verkauf („Quantitative Tightening“) sind die Zinsen an den Kapitalmärkten deutlich gestiegen. Während deutsche Staatsanleihen zum Jahreswechsel noch im negativen Bereich rentierten, stiegen die Renditen zwischenzeitlich auf über 2%, den höchsten Stand seit über 10 Jahren.

Es hätte aber auch schlimmer kommen können. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine im Februar 2022 verschlechterte sich die Stimmung extrem. Der Pessimismus unter Finanzanalysten zeigte sich sehr hoch, sogar höher als während der Pandemie. Ähnlich verhält es sich mit dem Verbrauchervertrauen, das während der letzten Wochen und Monate historische Tiefs erreicht hat. Doch im Gegensatz zur Stimmung entwickelte sich die tatsächliche Lage bisher weniger schlimm als befürchtet. Im zweiten Quartal 2022 hatte die Wirtschaft im Euroraum bereits mit deutlichen Zuwächsen überrascht. Im dritten Quartal hat sich dieses Bild wiederholt: In vielen Ländern fielen die BIP-Wachstumszahlen besser aus als erwartet und die Rezession lässt weiter auf sich warten. In Deutschland wurde beispielsweise mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2% gerechnet, die veröffentlichten Zahlen zeigen aber, dass die Volkswirtschaft sogar um 0,4% zulegte. Gleichzeitig fiel die Arbeitslosenrate in der Eurozone auf ein Rekordtief von zuletzt 6,5% im Oktober.

Doch wann ist der Tiefpunkt dieser schlechten Stimmung erreicht? Jüngst hat sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft wieder etwas gebessert. Mit den aktuellen Geschäften sind die Unternehmen zwar weniger zufrieden, aber der Pessimismus mit Blick auf die kommenden Monate lässt momentan merklich nach. Laut dem Münchner Ifo-Institut dürfte die Rezession daher weniger tief ausfallen als viele erwartet haben. Nicht nur auf der Seite der Unternehmen ist eine gewisse Stabilisierung spürbar, auch die Konsumenten blicken wieder etwas optimistischer in die Zukunft. Dennoch verharren die Indikatoren noch nahe an ihren historischen Tiefständen.

Gleichzeitig mehren sich die Anzeichen, dass auch die Inflation ihren Höhepunkt überschritten haben könnte. Die Angst vor einem Gas- bzw. Energieengpass im Winter hatte die Preise für Gas und Öl im Sommer in die Höhe getrieben. Nachdem in Europa die Gasspeicher mit ca. 90% gut gefüllt sind, hat sich der Druck auf die Energiepreise deutlich verringert. Auch wenn der Preis für Gas nur noch bei weniger als der Hälfte seines Höchststandes liegt, ist er historisch gesehen noch deutlich erhöht. Diese sinkenden Energiepreise schlagen sich bereits auf die Teuerung nieder. Die Gesamtrate der Inflation konnte daher in einigen Regionen bereits wieder zurückgehen, insbesondere in den USA, wo sie von 9,1% im Juni auf 7,1% im November zurückging. Die zugrundeliegende Inflation („Kerninflation“) bleibt jedoch weiterhin hoch, da die Unternehmen die vergangenen Preissteigerungen noch nicht vollständig an die Konsumenten weitergereicht haben.

Die Inflation wird vermutlich noch einige Zeit erhöht bleiben. Die Erwartungen für die Preissteigerungen in den nächsten 12 Monaten stiegen laut EZB im Oktober sogar auf 5,4% gegenüber 5,1% im September. Die von der EZB durchgeführte Umfrage zu den mittelfristigen Inflationserwartungen (in drei Jahren) der Verbraucher stieg nach der russischen Invasion auf 3% an, ist aber seitdem stabil geblieben. Im Laufe der Zeit erwarten die Verbraucher eine rückläufige Inflation, die aber über 2% bleiben wird. Wichtig werden bei der weiteren Preisentwicklung die Lohnerhöhungen sein. Das Lohnwachstum zieht nämlich in den USA, im Vereinigten Königreich und in der Eurozone an, was die Inflation weiterhin hoch halten könnte. Die EZB bezeichnete das Lohnwachstum im Jahr 2022 noch als begrenzt oder bescheiden. Eine große Mehrheit befragter Unternehmen erwartet für 2023 aber einen Anstieg von 4% oder mehr. „Höher als erwartete Lohnerhöhungen“ bleiben laut EZB jedoch ein Hauptrisikofaktor für die weitere Inflationsprognose.

Der leicht nachlassende Preisdruck könnte indes zu einer Verlangsamung der Zinserhöhungen führen. Die Notenbanken sind zwar bereit, die Zinsen trotz Rezessionsrisiken weiter in den restriktiven Bereich anzuheben, um die Inflation einzudämmen. Das Tempo der Zinserhöhungen wird aber vermutlich bald nachlassen. Die Märkte spekulieren sogar bereits über Zinssenkungen ab 2023, insbesondere in den USA. Doch wie hoch müssen die Leitzinsen noch steigen? Die Fed sieht den Höchststand wahrscheinlich bei 5-5,25%, die EZB möchte den Zins über 2% sehen.

Dennoch herrscht weiterhin hohe Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Die prognostizierten Lohnanstiege dürften nämlich nicht ausreichen, um zu verhindern, dass die realen Einkommen der Haushalte schrumpfen, was zu Lasten des privaten Konsums gehen wird. Die hohen Zinsen belasten zusätzlich den Konsum und auch die Investitionen. Daher wird wahrscheinlich im letzten Quartal 2022 und ersten Quartal 2023 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung in der Eurozone um je 0,4% gerechnet, bevor es danach wieder zu Wachstum kommt. Risiken für den wirtschaftlichen Ausblick bestehen aber weiterhin hinsichtlich der Entwicklung der Energiepreise und damit verbunden der Möglichkeit einer Rationierung von Erdgas. Auch wenn die Gasspeicher aktuell noch gut gefüllt sind, könnte ein überdurchschnittlich kalter Winter zu einer Gasmangellage führen. Dies könnte laut Schätzungen der OECD in Europa dazu führen, dass das BIP-Wachstum in 2023 um 1,4% schwächer ausfällt als die Organisation es in ihrem Basisszenario erwartet. Eine Rezession wäre dann unausweichlich. Vielleicht sollte man sich dieses Jahr folglich kein weißes Weihnachten wünschen.