Anfang November veröffentlichte die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände aktuelle Finanzdaten. Diese reflektieren das Haushaltsproblem vieler Kommunen. In einer Pressemitteilung verlautbarten ihre Präsidenten: „Wir gehen aktuell für das Jahr 2021 von einer Finanzierungslücke der Kommunen zwischen Einnahmen und Ausgaben von gut 10 Mrd. Euro aus. Wenn die Kommunen nicht schnell Hilfszusagen bekommen, bedeutet dies zwangsläufig drastische Kürzungen in den Haushalten – und das ausgerechnet bei den Investitionen […] Deshalb benötigen wir rasche Zusagen für Unterstützung“. Immens wichtig war es deshalb, dass der Bundestag am 17. September 2020 die Grundgesetzänderung zur finanziellen Entlastung der Kommunen mit Zweidrittelmehrheit beschloss. Dennoch bleibt abzuwarten, wie sich der Bund bei weiteren Hilfsanfragen verhalten wird. Hierfür könnte eine Änderung auf europäischer Ebene von entscheidender Bedeutung sein.
Regelmäßiger Regelbruch
Das bestehende Regelwerk sieht für Deutschland unterschiedliche Fiskalregeln vor. Auf nationaler Ebene existiert die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Hiernach ist der Bundeshaushalt „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“. Zum anderen verfügt das europäische Haushaltsüberwachungsverfahren gemäß dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) die Einhaltung der Maastricht-Kriterien. Diese sind von den jeweiligen Mitgliedsstaaten der Währungsunion zu erfüllen. Mit dem Ziel der Haushaltsstabilität verpflichten sich die Teilnehmerländer, ihr jährliches Defizit auf maximal 3% und die Staatsschuldenquote auf unter 60 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu begrenzen. Allerdings wurden rückblickend bisher nur drei von 28 Ländern niemals in einem Defizit-Verfahren gelistet: Estland, Luxemburg und Schweden. Besonders heikel ist, dass Deutschland seit 2003 permanent gegen die Regeln verstieß – mit einer gesamtstaatlichen Verschuldung von über 60% des BIP. In der Finanzkrise war die Schuldenquote Deutschlands zwischenzeitlich auf über 80% angewachsen. Erst mit einem Rekordüberschuss von 61,6 Mrd. Euro im Jahr 2018 konnte die Bundesrepublik das Maastricht-Kriterium erfüllen. 2019 betrug der Schuldensockel nur noch 59,6%.
Vom Regelwerk zur Disziplin
Warum führt die EU derartige Regeln ein, wenn sich letztlich kaum ein Land daranhält? Interessant ist hierzu eine Veröffentlichung des Internationalen Währungsfonds (IWF): Länder mit Fiskalregeln haben im Vergleich zu Ländern ohne derartige Regeln tendenziell geringere Haushaltsdefizite und Schulden. Wohl, weil das Festhalten an vernünftigen Haushaltsregeln zu Steuerpuffern führt, mit denen die Wirtschaft in Zeiten eines Abschwungs stabilisiert werden kann. Eine Einschränkung des politischen Ermessensspielraums erschwert zudem destabilisierende Maßnahmen wie etwa prozyklische Steuersenkungen. Aber in erster Linie zeigen viele empirische Analysen die starke disziplinarische Wirkung verbindlicher Regeln. Insbesondere wenn Finanzmärkte keinen ausreichenden Schutz vor exzessiver Fiskalpolitik bieten, sind Fiskalregeln notwendig. Als Beispiel Griechenland, das 2010 nicht mehr in der Lage war, fällige Kredite zurückzuzahlen und somit für erhebliche Unruhe in der Eurozone sorgte. Zwar existierten die Maastricht-Kriterien schon damals. Eine mangelhafte Einhaltung wurde jedoch nicht sanktioniert. Aus diesen Erfahrungen empfiehlt sich ein bindendes Regelwerk umso mehr.
Ausgesetzte Regeln in der Pandemie
2020 brachte die Corona-Pandemie einiges ins Wanken. Auch der seit über zwei Jahrzehnten bestehende Stabilitätspakt konnte, zumindest zeitlich befristet nicht standhalten. Erstmalig aktivierte die EU-Kommission am 20. März 2020 „die allgemeine Ausweichklausel“ im EU-Stabilitätspakt – wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Videobotschaft verkündete. Damit sind die Maastricht-Kriterien zunächst temporär ausgesetzt. Diese Klausel wurde im Rahmen des »Sechserpakets« zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2011 eingeführt. Laut EU soll sie „allen Mitgliedstaaten, die sich infolge eines schwerwiegenden Konjunkturabschwungs im Euro-Währungsgebiet oder in der EU insgesamt in einer umfassenden Krisensituation befinden“, Spielraum verschaffen. Demnach dürfen Staaten in koordinierter und geordneter Weise vorübergehend von den regulären Anforderungen abweichen. Dieser Ansatz erscheint richtig: Der Staat soll konjunkturell antizyklisch agieren, um die in einer Krise entfachte Rezession abzuschwächen – indem er durch seine Ausgaben neue Wirtschaftsanreize setzt. Doch gleichzeitig erhalten Staaten, die schon bis anhin die Maastricht-Kriterien nicht erfüllen konnten, nun genau dafür einen von der EU genehmigten Freibrief. Das Resultat des europäischen Regelwerks bleibt also ernüchternd. Schon oft hat man in der Vergangenheit daher versucht, über Reformen eine Kursverbesserung vorzunehmen.
Reformpläne mit offenen Fragen
Insgesamt wurde der EU-Stabilitätspakt immer komplexer und undurchschaubarer. Anfang Februar 2020 verlautbarte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni daher einen Plan, den Stabilitäts- und Wachstumspakt ein weiteres Mal zu reformieren. Zuletzt hatte sich Finnland darüber beschwert, dass die EU zur Bewertung von Haushaltsentwürfen „nicht überprüfbare Indikatoren wie Potenzialwachstum oder Output-Gap“ heranziehe. (Letzteres beschreibt die Abweichung zwischen Wachstumstrend und dem tatsächlichen Wachstum des BIP.) So könne ein Bewertungs-Spielraum entstehen, der mögliche Verstöße verdeckt. Daher wurden auch die Stimmen für eine Reform lauter. Im November gab Paolo Gentiloni dann bekannt: Er will öffentliche Investitionen für Grünes und Digitales künftig vom Schuldenstand der EU-Mitgliedsstaaten ausnehmen und somit den offiziellen Wert senken. Doch es bleiben Fragen: Ab wann genau ist eine öffentliche Investition grün? Verkompliziert dieser Schritt letztlich nicht die Haushaltsführung? Daher bleibt abzuwarten, ob der Ansatz eine spürbare Veränderung im Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie der nationalen Schuldenstände bewirkt. Experten meinen ohnehin, dass die Fiskalregeln der EU vermutlich bis 2023 außer Kraft bleiben dürften. Eine Entscheidung darüber, könnte im Frühling 2021 fallen. In der Zwischenzeit bestärkt Paolo Gentiloni die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten darin, ihre fiskalische Unterstützung so lange wie nötig beizubehalten.
Fiskalregeln – irgendwann
Mit der Ausweichklausel zeigte der EU-Stabilitätspakt, dass flexibel auf wirtschaftliche Geschehnisse reagiert werden kann. Die Schuldenbremse in Deutschland wurde zwar außer Kraft gesetzt – mit der Begründung einer außergewöhnlichen Notsituation für einen Nachtrag zum Bundeshaushaltsplan 2020. Dennoch tendieren die politischen Meinungen über weitere Schulden in beide Richtungen. Es bleibt genau zu beobachten, woher das Finanzministerium die nötigen Haushaltsgelder für das Jahr 2021 bekommen will, um klaffende Löcher bei den Kommunen zu stopfen. Der Bedarf erscheint mit 10 Mrd. Euro auf den ersten Blick groß. Vergleicht man ihn jedoch mit den Staatshilfen, die zur Rettung von einigen Unternehmen flossen, wirkt die Forderung der Verbände nicht mehr allzu utopisch. Mit dem Aussetzen der Maastricht-Kriterien generierte die EU schon mal einen Anfang, der dem Bund ein größeres Defizit bzw. eine höhere Schuldenquote erlaubt. Ob sich die Reformvorschläge von Gentiloni letztlich durchsetzen werden, bleibt ungewiss. Nur eins ist jetzt schon sicher: Die Fiskalregeln werden irgendwann wieder aktiv müssen dann von den Staaten erfüllt Staaten erfüllt werden.