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KW 23/22 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Wie geht es weiter mit der volkswirtschaftlichen Entwicklung? Auf der einen Seite stehen die diejenigen, die angesichts geldpolitischer Verschärfung und rekordhoher Inflation Rezessionsängste hegen. Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums verweist man auf die Öffnung der Wirtschaft und den privaten Verbrauch und hofft, dass dies ausreicht um eine harte Landung der Volkswirtschaft abzuwenden.
Die Unsicherheit darüber wie es weitergeht, zeigt sich auch an Börsen. Vor zwei Wochen beendeten die US-Börsen eine siebenwöchige Verlustserie mit einer kräftigen Kursrally von nahezu 7%, gemessen am Leitindex S&P 500. Doch die Erholung markierte noch keinen Richtungswechsel, denn in der darauffolgenden Woche ging es bereits wieder abwärts. Die Börsenentwicklung scheint damit bislang eher an eine harte Landung zu glauben.
Denn die bevorstehende geldpolitische Verschärfung rückt zunehmend näher. Die Fed plant in diesem Monat und im Juli ihren Leitzins um jeweils 50 Basispunkte anzuheben. Ob es im Herbst dann zu einer Atempause kommt, wird maßgeblich von der Inflationsentwicklung abhängen, wie die Präsidenten der regionalen Fed Institute in Cleveland und Atlanta, Loretta Mester und Raphael Bostic, erklärten. Anders hingegen Vizegouverneurin Lael Brainard, die für eine solche Pause keinen Anlass sieht. Am Geldmarkt wird damit gerechnet, dass der Leitzins der Fed in den kommenden 12 Monaten von derzeit 1% auf über 3% steigen wird.
Ähnlich ist das Bild bei der EZB. Auch wenn manche Entscheidungsträger einen 50 Basispunkte-Schritt in diesem Sommer ins Spiel gebracht haben, scheint die Mehrheit im Notenbankrat ein vorsichtigeres Vorgehen zu bevorzugen. Entsprechend könnte der Einlagensatz von aktuell -0,50% im Juli und September um jeweils 25 Basispunkte angehoben werden. Diese Gangart entspräche auch dem, was Christine Lagarde, die EZB Präsidentin, in ihren Reden zuletzt angedeutet hatte. Einer aktuellen Umfrage von Bloomberg zufolge könnte der Einlagensatz bis Herbst nächsten Jahres dann weiter auf 1,0% ansteigen.
Höhere Leitzinsen auf beiden Seiten des Atlantiks sollten die Volkswirtschaft bremsen, indem sie die Kreditaufnahme unattraktiver machen. Dies führt tendenziell zu weniger Investitionen, weniger Neueinstellungen und damit auch geringeren Konsumausgaben. Zusätzlich werden die Haushalte von der rekordhohen Inflation belastet. In der Eurozone stieg die Inflation unerwartet weiter an und erreichte 8,1% im Mai. In Frankreich übersteig die Inflation zum ersten Mal seit 1985 die Marke von 5%. Die deutsche Preissteigerung erreichte ein Allzeithoch von 8,7%. Auch wenn dank solider Entwicklung am Arbeitsmarkt die Löhne deutlich steigen, können diese nicht mit der Inflation mithalten.
In Deutschland betrug das Lohnwachstum beispielsweise 4% im Jahresvergleich im ersten Quartal dieses Jahres. Das war der höchste Zuwachs seit Beginn der Pandemie, aber eben nicht ausreichend um einen Verlust an Kaufkraft zu verhindern. Das gilt auch für die USA, wo die durchschnittlichen Stundenlöhne um 5,2% im Mai zulegen konnten während die Konsumentenpreise um 8,2% zunahmen. In den beiden vorangegangenen Monaten waren die Löhne noch um 5,5% und 5,6% gestiegen. Es zeichnet sich also bereits eine Verlangsamung des Lohnwachstums in Amerika ab. Ob wir in Deutschland bzw. im Euroraum eine ähnliche Entwicklung bekommen, ist noch nicht absehbar. Die meisten EZB Mitglieder sehen bis jetzt keine Lohn-Preisspirale. Bundesbankpräsident Joachim Nagel gab sich jedoch überzeugt, dass die Zeit der Lohnzurückhaltung in Deutschland vorbei sei und wir in der zweiten Jahreshälfte höhere Zahlen sehen werden.
Trotz der Aussicht auf hohe Zinsen und immer noch anhaltend hoher Inflation gibt es auch Hoffnungszeichen. Die Konjunktur profitiert von der Öffnung der Volkswirtschaft und dem Ende vieler pandemiebedingter Einschränkungen. Dies zeigte sich auch in der monatlichen Umfrage der EU Kommission zum Wirtschaftsvertrauen in der Eurozone. Während die Stimmung in der Industrie sich im Mai weiter verschlechtert hatte, fühlten sich die Dienstleistungsunternehmen etwas optimistischer.
Gleichzeitig schwächte sich die Nachfrage nach Gütern ab, wie die jüngsten Daten zu den Einzelhandelsumsätzen belegen. Im Euroraum sanken diese im April unerwartet um 1,3% im Monatsvergleich. Auch in Deutschland und Frankreich waren die Ausgaben überraschend gesunken (um jeweils 5,4% bzw. 0,4% im Vergleich zum Vormonat). Doch dahinter verbirgt sich zum Teil ein Trend weg von Güterausgaben, die während der Pandemie geboomt hatten, hin zu Dienstleistungen wie Reisen und Restaurantbesuchen, die in den letzten zwei Jahren nur sehr eingeschränkt verfügbar gewesen waren.
Unterstützt werden die Konsumenten dabei vom soliden Arbeitsmarkt. Im Euroraum verharrte die Arbeitslosenrate im April auf dem Allzeittief von 6,8%. In Deutschland spricht die Bundesagentur von wachsender Beschäftigung und hoher Nachfrage nach Arbeitskräften. In den USA herrscht weiter Vollbeschäftigung. Dort blieb die Arbeitslosenrate bei 3,6% im Mai. Hinzu kommen während der Pandemie angesammelte Sparpolster, die die US Bank Morgan Stanley mit 700 Mrd. Euro beziffert.
Überschussersparnisse, die gute Arbeitsmarktentwicklung und die Öffnung der Volkswirtschaft könnten gemeinsam dafür sorgen, dass die Konjunktur die Rezessionsrisiken überwindet. Insofern rechnet die EU Kommission in diesem Jahr immer noch mit einem Wachstum der Volkswirtschaft des Euroraums von 2,7%. Einige Unternehmen scheinen diesen vorsichtigen Optimismus zu teilen. Das Reiseunternehmen Tui rechnet nach zwei Jahren Krise wieder mit einem Gewinn. Der deutsche Autozulieferer SGL Carbon rechnet trotz höherer Kosten für Energie und Rohmaterialien mit steigenden Profiten. Wenn sich dieser Optimismus weiter ausbreitet, könnte es mit der Durststrecke an den Börsen irgendwann auch wieder ein Ende haben.