Hotline:  089 588 055 491

KW 3/22 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Am vergangenen Freitag meldete das statistische Bundesamt seine erste Schätzung zur Entwicklung des deutschen Bruttoinlandprodukts im abgelaufenen Jahr. Demnach wuchs die deutsche Wirtschaft trotz der anhaltenden Pandemiesituation sowie Liefer- und Materialengpässen um 2,7% in 2021. Im Vergleich zum Vorkrisentrend war dies ein beachtlicher Zuwachs. Zwischen 2010 und 2020 betrug die jährliche, durchschnittliche Zuwachsrate gerademal magere 1,1%. Doch dies verbirgt, dass die Erwartungen im Jahresverlauf mehr und mehr nach unten korrigiert worden sind. Im Sommer 2021 war der Konsens der Analysten noch von einer Zuwachsrate von etwa 3,5% ausgegangen. Sofern sich aber die Pandemiesituation im Frühling wieder aufhellt und die Lieferkettenprobleme die Unternehmen immer weniger belasten, könnte die wirtschaftliche Erholung wieder an Tempo gewinnen. Die Bundesbank rechnet in ihrem Dezember Monatsbericht daher mit einem Plus von 4,2% in 2022. Weniger beachtet worden ist die am gleichen Tag gemeldete Zahl des Staatshaushalts. Das deutsche Budgetdefizit betrug nur noch 4,3% des Bruttoinlandprodukts in 2021. Das war deutlich weniger als von Analysten erwartet. Diese hatten vielmehr mit einem Defizit von 5,5% gerechnet. Die EU Kommission hatte im Oktober sogar noch ein Minus von 6,5% veranschlagt. Damit befindet sich Deutschland auf einem guten Weg, bald wieder das Maastricht Kriterium zu erfüllen, das eine Defizitobergrenze von 3% vorsieht. Die EU Kommission sieht den Staatshaushalt schon in 2023 beinahe als ausgeglichen an, mit einem kleinen Minus von dann nur noch 0,5%. Wenn es so kommt, sollte es Finanzminister Christian Lindner helfen, seine Zusicherung wahrzumachen, dass ab dem nächsten Jahr wieder die Schuldenbremse gelten soll. Diese ist seit 2020 ausgesetzt. Sie erlaubt im Regelfall ein strukturelles, also um Konjunktureinflüsse bereinigtes Haushaltsdefizit des Bundes von höchstens 0,35% des Bruttoinlandprodukts. Anderen Mitgliedsstaaten der Eurozone wird es deutlich schwerer fallen, die 3% Defizitobergrenze im Staatshaushalt oder das Schuldenkriterium von höchstens 60% des Bruttoinlandprodukts in den kommenden Jahren zu erfüllen. Diese Regeln waren aufgrund der Pandemiesituation seit 2020 ausgesetzt. Ähnlich wie die Schuldenbremse sollen auch die EU Fiskalregeln ab 2023 wieder gelten. Zu Beginn dieser Woche diskutierten die EU Finanzminister, in welcher Form die Wiedereinführung der Fiskalregeln gelingen kann. Entscheidend dürfte sein, dass die Regeln glaubhaft sind. Denn es dürfte wenig Sinn machen, auf die Einhaltung der 60% Schuldenobergrenze zu pochen, wenn einige Mitgliedsstaaten auf Schuldenbergen von 100% oder mehr des Bruttoinlandprodukts sitzen. Von daher erklärt sich der Vorschlag des Europäischen Stabilitätsmechanismus, kurz ESM genannt. In einem Diskussionspapier schlugen Forscher des ESM im vergangenen Oktober vor, die Schuldenobergrenze auf 100% anzuheben. Eine andere Sicht vertrat der für Haushaltsfragen zuständige EU Kommissar Johannes Hahn. Er befürchtet, dass Änderungen am Regelwerk der Transparenz schaden und die Regeln unnötig verkomplizieren würden. Insbesondere erteilte er eine Absage an Überlegungen, Investitionen – seien sie grün oder „nur“ strategisch – aus der Berechnung der Schuldenquote auszuklammern. Stattdessen sollten die Mitgliedsstaaten sich lieber auf den Abbau der Schuldenberge konzentrieren. Die Befürworter einer Reform der Fiskalregeln argumentieren zu Recht, dass (sinnvolle) Investitionen das Wachstumspotential fördern und damit die Staatsschulden leichter bedienbar werden. Hinzu kommt, dass die EU sich selbst ehrgeizige Klimaziele gesetzt hat. Diese sind leichter zu erreichen, wenn das fiskalpolitische Korsett nicht zu eng geschnürt ist. Auf der anderen Seite dürfen die Finanzminister zwei wichtige Stellgrößen für den Schuldenabbau nicht aus den Augen verlieren. Diese sind die Wachstumsrate der Wirtschaft und die Finanzierungskosten der Staatsverschuldung. Je höher das Wachstum und je niedriger die Zinsen, desto leichter fällt der Schuldendienst. Bei beidem sieht es momentan gut aus. Die Wirtschaft erlebt derzeit eine Sonderkonjunktur. Die Haushalte verfügen über hohe Sparpolster, Geld- und Fiskalpolitik sind höchst expansiv, die Unternehmen erfreuen sich voller Auftragsbücher. Zudem hat die Konjunktur noch Boden wieder gut zu machen, den sie während der Pandemie eingebüßt hat. Zum Beispiel im Tourismussektor, der sich immer noch weit schwächer zeigt als im Vorkrisenjahr 2019. Doch all diese Sonderfaktoren sind endlich. Irgendwann sind die Überschussersparnisse ausgegeben, die Mittel aus dem EU Wiederaufbaufonds investiert und die Wirtschaft wächst wieder in einem normalen Tempo. Für Deutschland heißt das vermutlich eine Wachstumsrate von nur rund 1% wie vor der Krise, anstatt der für 2022 erwarteten rund 4%. Eine solche Normalisierung des Wachstums wäre zu verkraften, sofern das Zinsniveau so niedrig bliebe wie zuletzt. Doch das ist unwahrscheinlich. Die EZB wird zwar in diesem Jahr noch nicht an der Zinsschraube drehen. Denn die Notenbank geht fest davon aus, dass die Inflation sich sicherlich beruhigen wird, wie Vizepräsident Luis de Guindos noch letzte Woche betonte. Doch gleichzeitig schränkte er ein, dass die Entwicklung der Energiekosten kurzfristig das Hauptrisiko für den Inflationsausblick darstellen. Hinzu kommt die erfreuliche Entwicklung am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenrate des Euroraums fiel im November auf 7,2% und erreichte damit das tiefste Niveau seit März 2020. Gestiegene Inflationserwartungen und ein arbeitnehmerfreundliches Umfeld könnten für Lohndruck sorgen. Dafür gibt es allerdings noch keine Anzeichen, wie Herr de Guindos erklärt. Doch die USA haben gezeigt, wie schnell sich der geldpolitische Wind drehen kann. Noch Mitte 2021 haben die Verantwortlichen in der Federal Reserve mehrheitlich keinen einzigen Zinsschritt vor 2023 geplant. Nun kann es gar nicht schnell genug gehen. Eine Reihe von Offiziellen zeigten sich vergangene Woche offen dafür, möglichst bald mit dem ersten Zinsschritt zu beginnen und kann sich angesichts der hohen Inflation drei bis vier Zinsanhebungen in diesem Jahr vorstellen. Die Eile wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Preise in den USA im Dezember um 7% gestiegen sind, so viel wie zuletzt vor vierzig Jahre. Die EZB ist von einem ähnlichen Sinneswandel noch weit entfernt, auch wenn an den Märkten zum Teil ein kleiner Schritt bereits in 2022 eingepreist ist. Doch im nächsten Jahr könnte der Startschuss für die Normalisierung der Geldpolitik eingeläutet werden. Über kurz oder lang impliziert das auch höhere staatliche Finanzierungskosten. Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, was sich die Finanzminister der EU einfallen lassen und welche Fiskalregeln ab 2023 gelten werden.