Von Mitte Juni bis Mitte August hat sich der Marktwert amerikanischer Aktien im Leitindex S&P 500 um nahezu sechs Mrd. Dollar erhöht. Doch diese beeindruckende Rally scheint vorerst zu Ende zu sein. Investoren rätseln nun, was zu dem Kursanstieg geführt hat und wie es am Aktienmarkt weitergehen könnte. Einige Investmentbanken erklären die Rally damit, dass Hedgefonds ihre Wetten auf sinkende Kurse aufgelöst hätten. Die Gewinnmitnahmen seien aber kein Zeichen dafür, dass diese Marktteilnehmer an eine Fortsetzung der Börsenrally glauben würden.
Eine andere Theorie sieht ein Missverhältnis zwischen der Rhetorik der Notenbanken und den Marktteilnehmern. Die Geldpolitiker in den USA rechnen beispielsweise mit weiteren Zinsanstiegen auf bis zu 3,8% bis Ende nächsten Jahres, um die galoppierende Inflation in den Griff zu bekommen. Aber die Investoren sind nicht überzeugt. Sie glauben vielmehr, dass die amerikanischen Leitzinsen bereits im März bei 3,7% ihren Höhepunkt erreichen werden. Im Verlauf der zweiten Jahreshälfte 2023 könnte die US Notenbank Fed die Zinsen dann schon wieder auf bis zu 3,4% absenken. Aktuell beläuft sich der Leitzins auf 2,50%.
Doch Fed Offizielle betonen, dass sie weiterhin entschlossen sind, die nahezu höchste Inflation der vergangenen 40 Jahre energisch zu bekämpfen. Spekulationen, dass es in 2023 bereits wieder zu Zinssenkungen kommen könnte, sehen sie skeptisch. So erklärte Mary Daly, die Präsidentin der Fed Zweigstelle in San Franzisco, dass schnelle Anhebungen gefolgt von raschen Senkungen der Leitzinsen, dass „schlimmste“ wäre, was man Unternehmern oder Verbrauchern antun könnte. Denn dies würde zu einer Menge Vorsicht und Unsicherheit führen. Auch in Europa wird die Notwendigkeit weiterer Zinsanstiege betont. So erklärte Bundesbankpräsident Joachim Nagel, dass angesichts der hohen Inflation die EZB die Zinsen weiter anheben müsse.
Warum also glauben die Markteilnehmer, dass die Geldpolitik zum Einlenken gezwungen werden könnte? Ein möglicher Grund wären die wachsenden Rezessionsrisiken. Die Stimmung von Investoren, Verbrauchern und Unternehmen ist im Keller. Die Umfrage des ZEW Instituts zeigt, dass der Pessimismus der Finanzanalysten so groß ist wie zuletzt 2011. Die Gesellschaft für Konsumforschung wird diese Woche vermutlich von einen neuen Rekordstimmungstief der Verbraucher berichten. Und der Einkaufsmanagerindex der Eurozone ist im August noch ein Stück tiefer in den Bereich gesunken, der eine Rezession der Privatwirtschaft anzeigt. Die Gaspreise stiegen zuletzt weiter deutlich an, nachdem der russische Energielieferant Gazprom Wartungsarbeiten an der Gaspipeline Nord Stream 1 für Anfang September angekündigt hatte. Die anhaltend hohen Energiepreise dürften Industrie und Haushalte weiter belasten. Laut der monatlichen Umfrage der Finanznachrichtenagentur Bloomberg beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Rezession im Euroraum mittlerweile 60%. Im Juli wurde das Risiko eines Konjunktureinbruchs noch mit 45% eingeschätzt.
Doch die zuletzt veröffentlichten Konjunkturindikatoren zeichnen ein weniger düsteres Bild. Der amerikanische Arbeitsmarkt zeigt sich weiter robust. Selbst die wöchentlich berichteten Erstanträge zum Bezug von Arbeitslosengeld, die seit Jahresbeginn moderat angestiegen sind, befinden sich weiterhin auf historisch niedrigem Niveau. Die Konsumausgaben wachsen nach wie vor, trotz des eingebrochenen Verbrauchervertrauens. Die Einzelhandelsumsätze (unter Ausklammerung von Autos und Benzin) stiegen in den USA im Juli überraschend deutlich erneut um 0,7% im Vergleich zum Vormonat. Und auch die Industrieproduktion konnte im gleichen Monat mit 0,6% doppelt so stark wie erwartet zulegen.
Im Euroraum wuchs die Wirtschaft im zweiten Quartal nach neuen Schätzungen etwas weniger als zuvor berichtet. Doch mit 0,6% (anstatt der anfänglich geschätzten 0,7%) war der Zuwachs des Bruttoinlandprodukts immer noch deutlich mehr als die ursprünglich erwarteten 0,2%. Gleichzeitig wuchs die Beschäftigung mit 0,3% im Quartalsvergleich, wenn auch etwas langsamer als noch im Vorquartal. Selbst die deutsche Wirtschaft lief im ersten Halbjahr unter schwierigen Bedingungen noch ganz passabel, wie der der Bundesbankpräsident in einem Interview erst kürzlich erklärte. Dies alles spricht nicht dafür, dass sich die Notenbanken gezwungen sehen müssten, ihren geldpolitischen Kurs zu korrigieren.
Anders wäre es wohlmöglich, wenn es deutliche Zeichen dafür gäbe, dass die Inflation ihren Höhepunkt überschritten hat. Aber auch danach sieht es nicht aus. In Deutschland stiegen die Produzentenpreise im Juli im Jahresvergleich um rekordhohe 37,2% und damit deutlich mehr als erwartet. Für den Euroraum bestätigte das Statistikamt seine vorläufige Schätzung, der zufolge die Konsumentenpreise im gleichen Monat um 8,9% zugelegt haben. Selbst unter Ausklammerung von Nahrungsmittel- und Energiepreisen betrug der Anstieg der sogenannten Kernrate der Inflation immer noch 4%. Die Mehrheit der Analysten geht davon aus, dass der Höhepunkt der Inflation im vierten Quartal erreicht werden könnte. Doch sicher ist dies keineswegs. Lieferengpässe und geopolitische Spannungen können auch im nächsten Jahr noch fortwirken. Für Bundesbankpräsident Nagel wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die deutsche Inflation im Jahresdurchschnitt 2023 eine sechs vor dem Komma haben könnte. Im Juni hatte die Notenbank noch mit einer Teuerung im kommenden Jahr von 4,5% gerechnet. Wie seine Kollegin im EZB Rat, Isabel Schnabel, erklärte, dürfte es einige Zeit brauchen, bis die Inflation im Euroraum zum Ziel von 2% zurückkehren wird. Kurzfristig sei wohl ein weiterer Anstieg der Teuerung zu erwarten. Selbst im Fall einer Rezession wäre es ziemlich unwahrscheinlich, dass der Inflationsdruck von selbst abklingen würde, ergänzte Frau Schnabel.
Alles in allem ist also wenig zu erkennen, was für eine Sinneswandel der Notenbanken in absehbarer Zukunft sprechen würde. Im besten Fall könnte sich das Tempo der Zinsanhebungen zum Jahresende hin verlangsamen. Ob das alleine ausreichen wird, um eine Fortsetzung der Aktienmarktrally zu motivieren, ist eine andere Frage.