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KW 36/22 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Es kam nicht wirklich überraschend: Nach der angekündigten dreitägigen Wartung der Nord Stream 1 Pipeline hat Russland nun auf unbestimmte Zeit die Gaslieferungen nach Deutschland über diese Hauptroute eingestellt. Angeblich seien technische Mängel der Grund für den Lieferstopp. Europa könne nach russischen Aussagen erst wieder mit Lieferungen rechnen, wenn die Sanktionen gegen Russland aufgehoben würden. Als Reaktion darauf schnellten die europäischen Gaspreise am Montag um mehr als 30% in die Höhe, nachdem sie in der Vorwoche noch deutlich von ihrem Hoch gefallen waren. Auch die Aktienmärkte und der Euro gaben stark nach, da sich die wirtschaftlichen Aussichten durch die drohende Gasknappheit noch weiter eintrüben könnten.

Die europäische Politik sucht währenddessen weiter nach Möglichkeiten, wie sie betroffene Haushalte und Unternehmen vor dem Energiepreisschock schützen und verhindern kann, dass sich die Probleme im Energiesektor ausweiten. Schweden und Finnland haben beispielsweise Notfallmaßnahmen ergriffen, um ihren Versorgungsunternehmen zu helfen. Schweden will dabei für nordische und baltische Stromunternehmen umgerechnet bis zu 25 Mrd. Euro an Liquiditätsgarantien bereitstellen, Finnland im Rahmen eines ähnlichen Garantie- und Kreditprogramms 10 Mrd. Euro für finnische Unternehmen zur Verfügung stellen. Die Bundesregierung kündigte am vergangenen Sonntag ein weiteres Hilfspaket in Höhe von 65 Mrd. Euro an. Außerdem werden die europäischen Energieminister am kommenden Freitag zu einer Krisensitzung zusammenkommen, um über Interventionen in den Energiemarkt zu beraten. Zu den derzeit diskutierten Maßnahmen zählen unter anderem auch Preisobergrenzen.

Inzwischen haben sich die Märkte nach dem anfänglichen Schock wieder etwas stabilisiert. Die europäischen Aktienmärkte konnten per Dienstagmittag einige ihrer Verluste wieder aufholen, während sich der Gaspreis seinem Stand von vor der russischen Ankündigung des Lieferstopps wieder annähert. Dennoch hat sich durch die Verringerung des Energieangebots die Rezessionsgefahr erhöht. „Leider wird es immer wahrscheinlicher, dass wir eine Rezession bei gleichzeitig hoher Inflation durchmachen werden“, sagte hierzu der Konjunkturexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaft, Guido Baldi.

Die anhaltend hohen Preise belasten nämlich die Konsumenten stark. Die Inflation in der Eurozone bricht weiterhin einen Rekord nach dem anderen. Sie erreichte im vergangenen Monat mit 9,1% einen neuen Höchststand, was weitere Konsequenzen für die Zinsen haben wird. Der unerwartet hohe Preisanstieg, während die Arbeitslosenquote im Juli auf ein Rekordtief von 6,6% fiel, wird nämlich diejenigen in der Europäischen Zentralbank unterstützen, die ein entschlossenes Handeln fordern. Eine beträchtliche Minderheit von mindestens sechs EZB-Ratsmitgliedern könnte bei der Sitzung in dieser Woche eine über das übliche Maß hinausgehende Zinserhöhung um 75 Basispunkte in Betracht ziehen.

Hohe Energiekosten und Inflationsraten sowie weiter steigende Zinsen erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer wirtschaftlichen Schwächephase. Noch scheint es aber noch nicht soweit zu sein. Die Reiselaune der Deutschen mit den damit verbundenen Ausgaben könnten in diesem Sommer noch eine Kontraktion der Wirtschaft verhindert haben. Zudem stiegen in Deutschland trotz des Kaufkraftverlusts die Einzelhandelsumsätze im Juli unerwartet um 1,9% gegenüber dem Vormonat. Analysten hatten dagegen einen Rückgang erwartet. Außerdem zeigt sich der Arbeitsmarkt weiterhin solide. Zwar stieg die Arbeitslosenquote leicht von 5,4% auf 5,5% an. Das liegt aber in erster Linie daran, dass aktuell mehr Flüchtlinge aus der Ukraine ins Erwerbsleben eintreten. Der Arbeitsmarkt sei robust, bestätigte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles.

In den kommenden Monaten könnte sich dieses Bild jedoch ändern. Wenn die gestiegenen Energiepreise endgültig bei den Verbrauchern ankommen und die Extra-Ersparnisse aus den Corona-Lockdowns aufgebraucht sind, könnten die Konsumenten ihre Ausgaben deutlich zurückfahren. Dies kündigen bereits die sehr pessimistischen Konsumenten-Stimmungsindikatoren seit einigen Monaten an. Hinzu kommen vermutlich zurückgehende Investitionen seitens der Unternehmen, die durch die steigenden Zinsen gebremst werden. Im Juli sanken die Auftragseingänge deutscher Unternehmen bereits unerwartet deutlich um 1,1% gegenüber dem Vormonat. Zudem signalisiert der Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe im August den zweiten Monat in Folge eine Kontraktion.

Auch wenn die USA unabhängig von Gaslieferungen aus Russland sind, bedeuten die Inflation und die hohen Zinsen Gegenwind für die US-Konjunktur. Jedoch scheint sich die Situation hier etwas zu stabilisieren. Die sinkenden Kraftstoffpreise an den Zapfsäulen im August und der nach wie vor solide Arbeitsmarkt haben dazu beigetragen, dass sich die Stimmung der Verbraucher stärker als erwartet erholt hat und den höchsten Stand seit Mai erreichte. Die Zahl der offenen Stellen ist im Juli unerwartet auf 11,2 Mio. gestiegen, nachdem sie im Vormonat erheblich nach oben korrigiert worden war. Auf jeden Arbeitslosen kamen etwa zwei Stellen, was Nahe am Rekordhoch liegt. Die Zahl der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung ist die dritte Woche in Folge gesunken und liegt nun nur noch knapp über dem Durchschnitt für 2019. Gleichzeitig blieb die Stimmung im verarbeitenden Gewerbe im August stabil, was besser als erwartet war, dank eines Anstiegs der Auftragseingänge und der Beschäftigung.

All diese Daten sowie der solide offizielle US-Arbeitsmarktbericht aus dem August unterstreichen jedoch die Notwendigkeit für die Fed, die Leitzinsen anzuheben, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Loretta Mester, Präsidentin der Fed von Cleveland, schloss sich daher den Äußerungen ihrer Kollegen aus der Vorwoche an und erklärte, dass der Leitzins bis Anfang nächsten Jahres auf über 4% steigen und für einige Zeit dort bleiben müsse, um die Inflation abzukühlen. Sie machte auch deutlich, dass sie nicht davon ausgeht, dass die Zentralbank die Zinsen im Jahr 2023 bereits wieder senken wird. Interessanterweise fügte Frau Mester hinzu, dass sie nicht mit einer Rezession rechne, obwohl die Risiken eines solchen wirtschaftlichen Rückgangs zugenommen hätten.

Die bereits seit einiger Zeit diskutierten Belastungsfaktoren für die Konjunktur haben also nochmals zugenommen, insbesondere in Europa. Die US-Konjunktur scheint aktuell hingegen etwas widerstandsfähiger zu sein. Die hohe Inflation diesseits und jenseits des Atlantiks führt jedoch aktuell zu relativ identischen Reaktionen der Geldpolitik, nämlich großen Zinsschritten. Wie lange dies noch so bleibt, oder ob doch eine gewisse Divergenz zwischen der Geldpolitik in der Eurozone und der USA einsetzt, bleibt eine spannende Frage. Die EZB könnte nach Ansicht von Ratsmitglied Martins Kazaks nämlich ihre Zinserhöhungen durchaus verlangsamen, wenn eine tiefe Rezession im Euroraum die Inflation dämpft.