Nicht zum ersten Mal musste EZB Präsidentin Christine Lagarde den geldpolitischen Kurs ihrer Notenbank verteidigen. Während die Kollegen in Washington sich für den ersten Zinsschritt im März bereitmachen, ist das Vorgehen der Europäischen Zentralbank deutlich vorsichtiger. Einige Mitglieder des EZB-Rats warnen zwar davor, dass ein „längeres und höheres“ Inflationsszenario nicht ausgeschlossen werden kann. Doch zu unterschiedlich ist das Tempo der wirtschaftlichen Erholung in Europa im Vergleich zu den USA. Dies spräche dafür, dass die EZB die pandemischen Stimuli nicht im gleichen Tempo zurücknehmen kann wie die Fed, erklärte Frau Lagarde auf einem virtuellen Panel des Weltwirtschaftsforums.
Auch geht die EZB nach wie vor davon aus, dass die Inflation in 2023 und 2024 unter ihrem Ziel von 2% liegen wird. Doch der Rekordwert von 5% im vergangenen Dezember setzt die Notenbank unter Handlungsdruck. Die EZB Präsidentin bekräftigte daher, für jede Änderung der Inflationsprognose offen zu sein und zu handeln, wenn die Inflationskriterien erfüllt sind. „Aber im Moment sind sie nicht erfüllt“, so Frau Lagarde. Ganz ähnlich klingt es bei ihrem französischen Kollegen, Francois Villeroy de Galhau. Auch er plädiert für eine allmähliche Normalisierung der Geldpolitik, um einerseits das Wachstum nicht zu beeinträchtigen, andererseits nicht zu spät zu handeln. Zinserhöhungen bereits in diesem Jahr schließen die Währungshüter der EZB allerdings aus, auch wenn die Finanzmärkte auf einen ersten Zinsschritt bereits im September wetten.
Anders sieht es in 2023 aus. Ratsmitglied Olli Rehn hält eine Anhebung der Leitzinsen im kommenden Jahr für „logisch“, vorausgesetzt, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen trotz der Omikron Variante relativ gut bleiben werden. Dafür spricht unter anderem auch der kleine Rückgang des Einkaufsmanagerindex der Eurozone im Januar, der zu Beginn der Woche gemeldet wurde (siehe auch ausführlicher in unserem Fokusartikel). Der Konsens der vom Finanzdienstleister Bloomberg befragten Analysten rechnet mit einer Expansion der Wirtschaft im ersten Quartal dieses Jahres von 0,6%.
Auch die Bank of England muss mit der von Herrn Villeroy de Galhau angesprochenen Frage umgehen, wie sie zwischen Wachstumsrisiken und Inflationsgefahren abwägt. Ein vorsichtiges Tempo wie die EZB kann sie sich nicht leisten. Bereits im Dezember hob sie den Leitzins überraschend von 0,10% auf 0,25% an. Mit großer Wahrscheinlichkeit folgt die nächste Anpassung bereits kommende Woche am 3. Februar. Bis zum Jahresende erwarten die Finanzmärkte einen Leitzins von 1,25%.
Grund für die Eile der britischen Notenbank sind die hohe Inflation und die gute Entwicklung des Arbeitsmarkts. Zusammengenommen könnte dies dazu führen, dass die Inflationserwartungen in die Höhe schießen. Im November fiel die Arbeitslosenrate auf 4,1%, was dafür spricht, dass das Auslaufen des Kurzarbeiterprogramms im September nicht zu dem befürchteten Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hatte. Im Dezember wurden zudem deutlich mehr Arbeitsplätze geschaffen als erwartet worden war. Auch Omikron scheint also dem britischen Arbeitsmarkt keinen Schaden zugefügt zu haben.
Gleichzeitig hat sich der ungebremste Anstieg der Inflation in Großbritannien fortgesetzt. Im Dezember markierte der Preisanstieg ein 30-Jahreshoch von 5,4%. Im April könnte ein Anstieg der Energiepreise die Rate in Richtung 6,5% hochtreiben. Andererseits bedeutet die hohe Inflation deutliche Kaufkrafteinbußen. Diese Belastung können die Haushalte kaum mehr mit ihren Ersparnissen abfedern, denn deren Sparquote ist bereits vergleichsweise gering. Als Warnung dienen daher die Entwicklung des Verbrauchervertrauens und der Konsumausgaben im Dezember. Ersteres hat sich unerwartet eingetrübt, wie die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) berichtet. Gleichzeitig sanken die Umsätze des britischen Einzelhandels recht deutlich um fast 4% im Monatsvergleich. Analysten hatten lediglich mit einem Rückgang von 0,6% gerechnet.
Ebenfalls zur Eile gedrängt sieht sich die amerikanische Notenbank. Im März dürfte der erste von wenigstens drei Zinsschritten in diesem Jahr erfolgen. Ob das ausreicht, angesichts von 7% Inflation im Dezember, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ökonomen des Finanzdienstleisters Bloomberg erwarten mittlerweile sogar fünf Zinsanhebungen in 2022. Mohamed El-Erian, ehemals Chefvolkswirt der Allianz, sieht ein episches Versagen bei der Inflationsprognose der Fed. Um ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, müsse die Notenbank daher ihr Kaufprogramm, dass noch bis März weiterläuft, sofort einstellen, und wenigstens drei Zinsschritte für dieses Jahr ankündigen.
Interessanterweise kontrastiert die vermeintlich gebotene Eile der Notenbanken mit der entspannten Inflationsprognose der Analysten. Bis 2023 erwarten diese einen Rückgang der Inflation auf 2,3% in den USA, 2,1% in Großbritannien sowie 1,6% im Euroraum. Dies würde den Druck auf die Geldpolitik deutlich verringern. Doch damit es so kommt, ist dreierlei erforderlich. Die Energiepreise dürfen nicht weiter ansteigen, trotz eines möglichen Konflikts zwischen der Ukraine und Russland und dem möglichen Aus für die Erdgaspipeline Nord Stream 2. Zweitens bauen sich die weltweiten Lieferkettenprobleme und damit verbunden Materialknappheit im Jahresverlauf ab. Damit rechnet zumindest die Mehrheit der deutschen Industrie laut einer Umfrage des Ifo Instituts. Und drittens darf die erfreuliche Arbeitsmarktentwicklung trotz hoher realisierter Inflation nicht zu Zweitrundeneffekten in Gestalt hoher Lohnabschlüsse führen.
Wenn als diese „wenns“ eintreten, dann sollte der Preisauftrieb in der Tat zurückgehen und der Handlungsdruck auf die Notenbanken abnehmen. Dies setzt, wie angedeutet, einiges voraus. Andernfalls werden die Märkte auch in 2022 die Geldpolitik vor sich hertreiben.