Die Volkswirtschaftslehre wird gelegentlich auch als Lehre der „Knappheit“ verstanden. Sowohl die Güter sind knapp, mit denen wir unsere Bedürfnisse befriedigen, aber auch die Ressourcen sind knapp, um diese Güter herzustellen. Selten aber stand die Knappheit so sehr im Vordergrund wie in diesem Jahr, angefangen von fehlenden Halbleitern, knappen Arbeitskräften und zu niedrigen Lagerbeständen beim Erdgas. All dies treibt die Preise nach oben, schwächt die Wirtschaft und stellt die Notenbanken damit vor ein Dilemma. Sollen sie auf den Inflationsdruck reagieren und die Geldpolitik verschärfen? Oder lieber weiter großzügig Liquidität bereitstellen, um die Wirtschaft zu unterstützen?
Knappheit von Arbeitskräften beschäftigte in der vergangenen Woche die amerikanischen kleinen und mittleren Unternehmen, die monatlich von der National Federation of Independent Businesses zum Geschäftsklima befragt werden. Die Umfrage zeigte, dass eine rekordhohe Zahl von Unternehmen im September damit kämpfte, seine offenen Stellen zu besetzen. Dies veranlasste viele von ihnen, die Löhne anzuheben, um für potentielle Arbeitnehmer attraktiver zu werden.
Wenn die Löhne steigen und Güter knapp werden, hat das auch Einfluss auf die Inflation. Im September stiegen in Amerika die Konsumentenpreise um 5,4%. Dies war mehr als erwartet und stellte den stärksten Anstieg seit 2008 dar. Beunruhigend aus Sicht der Notenbank dürfte nicht nur die Gesamtrate sein, die mehr als deutlich über dem 2% Ziel liegt. Denn die Bewegungen innerhalb des Warenkorbes zeigen, dass sich der Preisdruck zunehmend ausweitet und nicht mehr „nur“ diejenigen Kategorien betrifft, die in engem Zusammenhang mit der Öffnung der Wirtschaft stehen.
So wundert es nicht, dass die Protokolle der letzten Sitzung der US Notenbank Fed nahelegen, dass die Rückführung des Wertpapierkaufprogramms (das sogenannte „Tapering“) bald beginnen wird. Der Chef der Fed Niederlassung in Atlanta, Raphael Bostic, machte zudem klar, dass der enttäuschende Arbeitsmarktbericht für den Monat September, über den wir letzte Woche berichtet hatten, kein Grund sei, mit dem Tapering noch länger zu warten.
Aber nicht nur der amerikanische Arbeitsmarkt hatte sich im September enttäuschend entwickelt. Auch die Industrieproduktion brach überraschend ein. Statt des erwarteten Anstiegs um bescheidene 0,1% fiel die Produktion um 1,3%. Gleichzeitig wurde der Vormonat von einem Plus in Höhe von 0,4% auf ein Minus von 0,1% nach unten korrigiert. Grund für die schwache Entwicklung war neben dem Hurrikan Ida, der knapp die Hälfte des Rückgangs zu verantworten hatte, ein starker Rückgang bei der Automobilproduktion. Letzteres wiederum ist die Folge der knappen Halbleiter. Dies dürfte auch in den kommenden Monaten die Produktion belasten und anders als der Sturm Ida nicht nur vorübergehender Natur sein.
Dies gilt übrigens auch für die Eurozone. Im August brach die Industrieproduktion um 1,6% ein, getrieben vor allem von der Schwäche im deutschen Automobilsektor. Wie wir in der Vorwoche berichtet hatten, geben die Daten des deutschen Automobilverbands VDA wenig Grund zur Hoffnung, dass sich die Lage in naher Zukunft verbessern wird. Diese Woche meldete der europäische Verband, dass die PKW-Neuzulassungen im September um 25% eingebrochen sind. Dies wäre aus Sicht der Hersteller der schwächste Monatswert seit dem Jahr 1995. De Verband verweist auf die fehlenden Halbleiter, wobei Covid-19 Ausbrüche in Südostasien die Lage noch verschlimmert haben. Die Ratingagentur Fitch erwartet Besserung erst in der zweiten Jahreshälfte 2022, und sieht bis Mitte 2023 noch in gewissem Umfang Knappheitsprobleme bei Halbleitern.
Diese Gemengelage belastet vor allem Volkswirtschaften wie die deutsche Wirtschaft, die eine starke industrielle Basis aufweisen. In ihrem Herbstgutachten haben daher führende Wirtschaftsinstitute ihre Wachstumserwartungen für Deutschland korrigiert. Statt eines Zuwachses von 3,7% erwarten die Forscher in diesem Jahr nur noch ein Wirtschaftswachstum von 2,4%. Neben der Knappheit an Halbleitern belasten auch fehlenden Frachtkapazitäten und die stark gestiegenen Energiepreise. Für 2022 hingegen wird nun mit einem Plus von 4,8% gerechnet, fast ein Prozentpunkt mehr als zuvor erwartet. Dies setzt natürlich voraus, dass sich die genannten Probleme im Verlauf des kommenden Jahres tatsächlich abschwächen. Andernfalls droht in ein paar Monaten die nächste Prognosekorrektur.
Die gegenläufigen Trends bei Inflation und Wachstum stellen für die Notenbanken eine Herausforderung dar. Doch die Reaktionen unterscheiden sich recht deutlich. Während die Fed und die Bank of England mit dem Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik bald beginnen werden, verlegt sich die Europäische Zentralbank aufs Abwarten. Frau Lagarde sieht keine der gefürchteten Zweitrundeneffekte, bei denen höhere Löhne eine Inflationsspirale in Gang setzen. Vielmehr warnt sie davor, die geldpolitische Unterstützung zu früh zurückzuziehen. Ähnlich argumentieren die Präsidenten der französischen und der finnischen Notenbank. Die Inflation werde bis Ende 2022 wieder unter die 2% Marke fallen, kein Grund also die Leitzinsen im kommenden Jahr anzuheben. Schließlich gäbe es in der Eurozone noch viel „ökonomischen Stillstand“. EZB Ratsmitglied Mario Centeno von der portugiesischen Notenbank sieht daher die Geldpolitik in der Pflicht, die Erholung weiter zu unterstützen.
Doch wie könnte diese Unterstützung aussehen, nachdem das Pandemiekaufprogramm im März 2022 ausläuft? Hinweise darauf könnte die am 28. Oktober anstehende Ratssitzung bieten, vermutet die Investmentbank J.P. Morgan. Bis dahin werden die Märkte jede Äußerung der Notenbanker mit Argusaugen verfolgen.