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KW 45/22 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Diese Redensart, die dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zugschrieben wird, gilt nicht zuletzt für die Zunft der Volkswirte. Auch wenn Prognosen ihr tägliches Brot sind, so fällt es den Ökonomen meist schwer, eine Rezession vorherzusagen, selbst wenn sie bereits begonnen hat. Tatsächlich wurden praktisch alle wirtschaftlichen Abschwünge der letzten Jahrzehnte vom Konsens der Volkswirte nicht rechtzeitig antizipiert. Dies meist mit der Begründung, dass die Umstände diesmal anders seien („This time is different“). Umso überraschender erscheint daher die Sicherheit, mit der diesmal schon seit Monaten eine Rezession in Europa und den USA als unvermeidlich angesehen wird.
Die von der Nachrichtenagentur Bloomberg regelmäßig befragten Volkswirte sehen seit einigen Monaten eine 80%ige Wahrscheinlichkeit, dass die Eurozone in naher Zukunft in die Rezession schlittern wird. Dem haben sich im Oktober der Weltwährungsfonds und nun auch die Europäische Kommission angeschlossen. Zu Beginn dieser Woche erklärte EU Kommissar Paolo Gentiloni den Finanzministern der Eurozone: “… wir wissen, dass sich die volkswirtschaftliche Dynamik verlangsamt und eine Kontraktion zumindest in den Wintermonaten kommen wird“. Die detaillierten Prognosen der EU Kommission wird Herr Gentiloni am Freitag vorstellen.
Doch woher kommt diese Sicherheit, mit der diesmal Monate im Voraus der Abschwung vorhergesagt wird? Zum einen befinden sich die Frühindikatoren seit einiger Zeit im Sinkflug. Der Einkaufsmanagerindex von S&P Global für die Eurozone befindet sich seit Juli unterhalb der Schwelle, die in der Vergangenheit eine Rezession angezeigt hat. Der diese Woche gemeldete Wert ist der Niedrigste seit November 2020. Das Investorenvertrauen konnte sich laut Research Haus Sentix in diesem Monat leicht verbessern. Doch damit ist die Stimmung der befragten Finanzanalysten immer noch nahe seiner historischen Tiefststände.
Gleichzeitig belastet die Inflation weiterhin, wie die diese Woche berichteten Produzentenpreise in Erinnerung rufen. Diese stiegen im September im Monatsvergleich um 1,6%. Das ist zumindest eine Verlangsamung im Vergleich zum Vormonat, also sie noch um 5,0% zulegten. Die starke Teuerung verteuert die Produktion der Unternehmen und raubt den Haushalten die Kaufkraft. Dies sollte zu Produktionskürzungen und weniger Konsum führen.
Zudem zwingt die ausufernde Inflation die Notenbank dazu, die Geldpolitik zu verschärfen. So hat die EZB Ende Oktober die Leitzinsen erneut um 75 Basispunkte erhöht. Weitere Schritte werden folgen, wie die Chefin der Notenbank, Christine Lagarde, in der Zwischenzeit angekündigt hat. Auch Bundesbankpräsident Joachim Nagel blies ins gleiche Horn und erklärte, er würde alles tun um sicherzustellen, dass die EZB ihre geldpolitische Normalisierung (also weitere Zinsanhebungen) mit Entschlossenheit fortsetzen werde. Und wie auch Frau Lagarde würde ihn eine Rezession nicht vom Kurs abbringen.
Der Dreiklang aus gedrückter Stimmung, hoher Inflation und immer weiter steigenden Zinsen lässt eine Rezession unvermeidlich erscheinen. Doch die Realwirtschaft zeigt sich davon bisher unbeeindruckt. Wie in der Vorwoche berichtet, wuchs das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal im Euroraum unerwartet, und selbst Deutschland konnte den erwarteten Einbruch noch vermeiden. Die Arbeitslosenrate in der Eurozone sinkt weiter. Im September fiel sie von zuvor 6,7% auf das Allzeittief von 6,6%. Im gleichen Monat stiegen die Einzelhandelsumsätze um 0,4%, zudem wurde der Vormonat von -0,3% auf 0,0% hochkorrigiert. In Deutschland blieb der Zuwachs an Arbeitslosen kleiner als befürchtet, die Arbeitslosenrate verharrte im Oktober auf niedrigen 5,5%. Die Industrieproduktion konnte im September unerwartet deutlich um 0,6% zulegen (nach einem Rückgang von 1,2% im Vormonat).
All diese Datenpunkte sind zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer. Noch ist es aber zu früh, um sagen zu können, dass eine Rezession vermieden werden kann. Denn entscheidend dafür wird die weitere Entwicklung des Gaspreises sein. Dieser hat sich in den vergangenen Wochen deutlich verringert. Von einem Hochpunkt von über 300 Euro je Megawattstunde Ende August hat sich dieser auf zuletzt 112 Euro nahezu gedrittelt. Wie eine aktuelle Analyse der Volkswirte von Bloomberg zeigt, würde ein durchschnittlicher Gaspreis von rund 100 Euro die Energiekosten für Unternehmen und Haushalte so deutlich reduzieren, dass es wohl nicht zu einem Abschwung kommen würde. Statt einem erwarteten Rückgang des BIPs von 0,1% würde laut Bloomberg die Wirtschaft des Euroraums in 2023 in diesem Fall um 1,1% expandieren. Von daher dürfte das tägliche Studium der Wettervorhersage (wie kalt wird der Winter?) und des Gaspreises in nächster Zeit fester Bestandteil des volkswirtschaftlichen Instrumentariums werden.