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KW 46/21 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Zu den Bildungsangeboten mancher Notenbanken gehören auch Computerspiele, in denen der Spieler in die Schuhe einer Christine Lagarde oder eines Jerome Powells schlüpfen kann. Der Autor dieser Kolumne hat bis jetzt keines dieser Spiele ausprobiert. Es scheint aber schwer vorstellbar, dass diese Spiele vermitteln können, wie kompliziert Geldpolitik im echten Leben sein kann. Die Herausforderung besteht darin, das wirtschaftliche Umfeld in Echtzeit zu analysieren. Dann daraus hoffentlich die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Und schließlich aus der Vielzahl der Instrumente – Kommunikation, Leitzins, Mindestreserve, Einlagensatz, und Wertpapierkäufe – auszuwählen. Bei all dem wohl wissend, dass manche geldpolitische Entscheidung nur mit zeitlicher Verzögerung seine Wirkung entfaltet.

Aus Sicht der US-Notenbank scheint die Sachlage einigermaßen klar zu sein. Die Inflation hat im Oktober mit 6,2% den höchsten Wert der letzten 30 Jahre erreicht. Höhere Energiepreise erklären einen erheblichen Teil des Preisanstiegs. Aber zunehmend gewinnt der Preisauftrieb an Breite und erfasst immer mehr Kategorien des Warenkorbs, der die Grundlage für die Berechnung der Konsumentenpreise darstellt. Längst sind es nicht mehr überwiegend diejenigen Bereiche, die von der Pandemie betroffen waren, also etwa die Preise für Auswärtsessen, Reisen und Gebrauchtwagen. Gleichzeitig steigen die Inflationserwartungen. Eine Umfrage der Fed in New York verzeichnete im November den höchsten Stand seit Beginn der Umfrage in 2013. Die Inflationsprämie von Anleihen, deren Kupons und Rückzahlungsbetrag an die Preisentwicklung gekoppelt sind, erreicht neue Höchststände.

Amerikanische Unternehmen (und nicht nur diese) sind daher immer weniger bereit die gestiegenen Kosten mit weniger Gewinn zu bezahlen. Stattdessen gibt ein rekordhoher Anteil die höheren Preise an seine Kunden weiter, so die Umfrage der National Federation of Independent Businesses. Ebenso rekordhoch ist die Zahl der befragten Unternehmen, die mit höheren Löhnen um knappe Arbeitskräfte kämpfen.

Ob es mit dem Preisanstieg bald vorbei ist, ist daher fraglich. James Bullard, Mitglied im Notenbankrat und Präsident der Fed in St. Louis, fürchtet, dass die Lieferengpässe im nächsten Jahr fortbestehen werden und dass Arbeitnehmer auch in 2022 ein knappes Gut sein werden. Die Fed könnte sich daher gezwungen sehen, schneller als erwartet die Leitzinsen anzuheben. Bislang ist der Notenbankrat gespalten, ob der erste Zinsschritt erst 2023 oder bereits ein Jahr früher erfolgen sollte. Bleibt die Inflation hartnäckig hoch, könnte das Pendel bald in Richtung 2022 ausschlagen. Herr Bullard gehört zu denjenigen, die zwei Zinsschritte (also insgesamt 0,5%) bereits im nächsten Jahr befürworten.

Zusätzliche Schützenhilfe erhielten die Falken im Notenbankrat – also diejenigen, die für eine schnellere Rücknahme der lockeren Geldpolitik plädieren – von den aktuellen Konjunkturdaten. Im Oktober stiegen die Einzelhandelsumsätze recht deutlich um 1,7% im Monatsvergleich. Dieser Anstieg ist umso bemerkenswerter, da eine Woche zuvor das Verbrauchervertrauen wegen der hohen Inflation auf ein 10-Jahrestief gefallen war. Auch die Industrieproduktion legte deutlich um 1,6% zu, nachdem sie noch im Vormonat wegen des schwächelnden Automobilsektors geschrumpft war.

Schwerer als die Fed tut sich die Europäische Zentralbank mit ihren geldpolitischen Entscheidungen. Auf den ersten Blick scheint der Fall auch hier klar zu sein. Im Oktober erreichte die Inflation in der Eurozone den Rekordwert von 4,1%. Die Wirtschaft wächst robust. Im dritten Quartal konnte ein Zuwachs von 2,2% verzeichnet werden. Die Europäische Kommission rechnet in ihrer aktuellen Herbstprognose mit einem Plus von 5% in 2021, gefolgt von 4,3% im kommenden Jahr. Gerade in Deutschland sind daher die Stimmen derjenigen laut, die die EZB zum Handeln auffordern. Der Chef einer großen deutschen Bank drängte die Währungshüter, auf den Preisdruck zu reagieren. Seine Volkswirte würden anders als die EZB nicht glauben, dass der Preisauftrieb nur vorrübergehender Natur sei. Der Chef einer anderen Bank bemühte sogar die griechische Mythologie und warnte die Notenbank davor, wie Ikarus der Sonne zu nahe zu kommen.

Doch Christine Lagarde nutzte eine Anhörung vor dem Europäischen Parlament, um ihre abwartende Haltung zu verteidigen. Die Inflation würde auf mittlere Sicht wieder unter die 2% Marke fallen, sobald die Angebotsengpässe abebben. Zudem sei das Risiko von Zweitrundeneffekten begrenzt. Darunter verstehen Volkswirte den Teufelskreis, dass höhere Inflation zu höheren Löhnen führt, was wiederum die Inflation weiter anheizt. Würde die Notenbank die Geldpolitik wie gefordert verschärfen, so könnte dies mehr Schaden als Nutzen anrichten, fürchtet Frau Lagarde. Wegen der Zeitverzögerung, die es braucht bis eine Zinsanhebung seine Wirkung entfaltet, könnte die Inflation sich dann bereits wieder im Sinkflug befinden. Tatsächlich erwarten die monatlich von dem Informationsdienstleister Bloomberg befragten Volkswirte, dass die Inflation im vierten Quartal 2022 sich auf 1,6% mehr als halbiert haben wird.

Anders als bei der Fed, und anders als an den Märkten eingepreist, ist eine Leitzinsanhebung seitens der EZB schon im nächsten Jahr recht unwahrscheinlich. Dies betonte Frau Lagarde noch einmal, wobei sie sich für 2023 nicht festlegen wollte. Damit stehen die Zeichen auf anhaltend lockere Geldpolitik, wenn sich die Mitglieder der Notenbank im Dezember das nächste Mal in Frankfurt zu Beratungen treffen. Trotz der Opposition einer Minderheit im Notenbankrat dürfte die EZB beschließen, an ihrer lockeren Geldpolitik in 2022 festzuhalten. Soviel machte Christine Lagarde bereits klar: „Auch nach dem erwarteten Ende des Pandemiekaufprogramms (im März 2022) wird es weiterhin wichtig sein, dass die Geldpolitik … die wirtschaftliche Erholung im ganzen Euroraum und die Rückkehr der Inflation zum Ziel (von 2%) unterstützt“.

Ob die Rechnung für Frau Lagarde aufgeht, wird sich erst im Laufe des nächsten Jahres zeigen. Wenn sich der Autor im Notenbankspiel heute entscheiden müsste, würde er aber vermutlich dem Avatar von Jerome Powell den Vorzug geben.