Vergangenen Freitag erlebten die Börsen weltweit erhebliche Kursrückgänge. In Europa beliefen sich die Verluste auf fast vier Prozent, so viel wie zuletzt im Juni 2020. In Amerika verlor der Leitindex S&P 500 über 2 Prozent. Gleichzeitig stürzte der Ölpreis unter die 70 Dollar pro Barrel Marke, während die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen den größten Rückgang seit März 2020 verzeichnete. Auslöser für all diese Turbulenzen an den Kapitalmärkten war die im Süden Afrikas neu entdeckte Variante des Coronavirus. Die Weltgesundheitsorganisation taufte die Variante auf den Namen Omikron und charakterisierte sie als „besorgniserregend“. Sorgen bereitet den Wissenschaftlern die Vermutung, dass Omikron ansteckender sein könnte als etwa die Delta Variante. Noch ist unklar, ob die Virusvariante auch tödlicher ist, und ob die bisher verfügbaren Impfstoffe gegen Omikron weniger wirksam sind.
Solange diese Fragen nicht geklärt sind, dürfte die Unsicherheit an den Kapitalmärkten weiter anhalten. Eine am Dienstag veröffentlichte Umfrage der kanadischen Bank RBC Capital Markets ergab, dass etwa die Hälfte der befragten Investoren an ihrer Anlagestrategie festhalten werden bis sie mehr Klarheit über die Wirksamkeit der Impfpräparate und über die Schwere der von Omikron verursachten Krankheitsverläufe haben.
Auch unter Ökonomen ist die Verunsicherung spürbar. Das US Investmenthaus Goldman Sachs skizzierte vier mögliche Szenarien: ein Abwärtsszenario, ein schweres Abwärtsszenario, das Szenario „falscher Alarm“ und ein spekulatives, positives Aufwärtsszenario. Der Chefvolkswirt der Bank resümierte, dass Omikron beträchtliche Auswirkungen auf das Wachstum haben könnte, die Bandbreite der Möglichkeiten aber ungewöhnlich groß sei. Folglich belasse man die Prognosen bezüglich Wachstum, Inflation und Geldpolitik erstmal unverändert.
Auch Fed Chef Jerome Powell, der von Präsident Biden vergangene Woche für eine zweite Amtszeit nominiert wurde, zeigte sich verunsichert. Die neue Variante bedrohe einerseits das Wirtschaftswachstum und den Aufschwung am Arbeitsmarkt, könnte aber zugleich auch den Inflationsdruck weiter erhöhen.
Die jüngsten Konjunkturdaten, die natürlich den Zeitraum vor Entdeckung von Omikron abdecken, zeigen das altbekannte Bild. Die Wirtschaft wächst weiterhin robust. In Amerika schwächte sich der Einkaufsmanagerindex im November leicht ab, blieb aber auf relativ hohem Niveau. In der Eurozone verzeichnete dieser vielbeachtete Frühindikator einen unerwarteten Anstieg. Auch am Arbeitsmarkt sieht es gut aus. Die wöchentlichen Erstanträge zum Bezug von Arbeitslosengeld fielen in den USA auf den niedrigsten Wert seit 1969. In Deutschland sank die Arbeitslosenrate im November unerwartet von 5,4% auf 5,3%.
Zu wenig verfügbare Arbeitskräfte und Lieferengpässe bestehen weiter fort und sorgen für anhaltenden Inflationsdruck. In Amerika belief sich der Anstieg im Oktober auf 5%. In der Eurozone, einschließlich Deutschland, erhöhten sich die Preise im November ebenfalls um rund 5%. Der rasante Zuwachs bei den Energiepreisen spielt eine erhebliche Rolle bei den erschreckend hohen Inflationszahlen. Aber auch jenseits von Nahrungsmittel- und Energiepreisen steigt der Druck, wie der sprunghafte Anstieg der sogenannten Kerninflation zeigt.
Die vierte Coronavirus-Welle, die gerade Europa fest im Griff hat, und auch Omikron, könnten den Wachstumsausblick verdüstern. Vor allem dann, wenn härtere Lockdown Maßnahmen nötig werden oder die Haushalte sich stärker zurückhalten und auf Konsum und Reisen verzichten. Doch die Erfahrung mit früheren Corona-Wellen ist Grund für etwas Optimismus. In Frankreich verzeichnete die wirtschaftliche Aktivität im Frühling 2020 noch einen Rückgang von 29 Prozentpunkten, berichtet die französische Notenbank. Im Winterlockdown, der im Oktober 2020 begann, belief sich das Minus auf nur noch 4 Prozentpunkte. Ein dritter kurzer Lockdown im April dieses Jahres hinterließ praktisch keine Bremsspuren in der französischen Volkswirtschaft. Entsprechend zuversichtlich zeigen sich daher EZB Offizielle wie Vizepräsident Luis de Guindos, der vergangenen Freitag nur „begrenzte wirtschaftliche Effekte“ erwartete.
Auch wenn die wirtschaftlichen Aussichten gut bleiben sollten, wird Omikron vermutlich den ohnehin starken Preisanstieg weiter anfeuern. In China, dessen Regierung nach wie vor eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Covid-19 verfolgt, dürften mit der neuen Virusvariante weitere Produktionsstörungen auf der Tagesordnung stehen. In Amerika wird der Mangel an Arbeitskräften weiterhin vorherrschen. Denn Covid-19 hält viele Arbeiter davon ab, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Dies wiederum erhöht den Druck auf die Löhne. Hinzu kommt der einsetzende Winter, der nicht nur die Ausbreitung des Virus fördert, sondern auch für weiter hohe Energiepreise sorgen wird. Kurzfristig drohen daher weiterhin rekordhohe Inflationszahlen.
Aber gegen hohe Energiepreise und neue Virusvarianten kann die Geldpolitik wenig ausrichten, wie EZB Chefin Christine Lagarde erst kürzlich betonte. Wenn im März nächsten Jahres das Pandemiekaufprogramm PEPP ausläuft, wird die Geldpolitik die Liquiditätsschleusen weiter offenlassen. Herr de Guindos erklärte diese Woche, dass Anleihenkäufe weiterhin nötig seien und die Geldpolitik über den März 2022 hinaus locker bleiben müsse.
Auf wenig Gegenliebe stößt diese Haltung beim Wirtschaftsweisen Volker Wieland, der auch als Nachfolger von Bundesbankchef Jens Weidmann gehandelt wird. Er möchte nicht ausschließen, dass die Inflation in 2022 sich als stärker als erwartet erweist und daher der negative Einlagensatz aufgegeben werden müsse. Herr Wieland würde eine frühere Verschärfung der Geldpolitik vorziehen. Damit dürfte er mit Herrn Weidmann auf einer Linie liegen, ohne – wie der scheidende Bundesbankchef – etwas an der Haltung der EZB ändern zu können.
Der Beobachter all dieser Entwicklungen mag sich dabei fühlen, wie in dem berühmten Zitat aus dem Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa: “Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist“.