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KW 49/22 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Wenn gute Konjunkturdaten schlechte Nachrichten sind, und die Aktienmärkte auf negative Wirtschaftszahlen mit Kurszuwächse reagieren, könnte man auf den ersten Blick meinen die Welt steht auf dem Kopf. Doch beim genaueren Hinschauen erscheint das Verhalten der Marktteilnehmer durchaus rational. Denn sie spekulieren darauf, dass die Notenbanken schon bald das Tempo der Zinsanhebungen verlangsamen werden. Womöglich könnte im Laufe des kommenden Jahres die Geldpolitik bereits wieder gelockert werden, so die Hoffnung am Aktienmarkt. Damit die seit mehreren Wochen andauernde Börsenrally sich fortsetzen kann, wünschen sich die Investoren Meldungen, die ein schwächeres (aber nicht zu schwaches) Wirtschaftswachstum und eine nachlassende Teuerung signalisieren. Solche Meldungen würden es den Währungshütern leichter machen, den geldpolitischen Gürtel nicht ganz so eng zu schnüren.
Derart betrachtet bot die vergangene Woche ein uneinheitliches Bild. Der amerikanische Arbeitsmarkt scheint sich abzukühlen. Die Zahl der offenen Stellen, die mit einem Monat Verzögerung berichtet werden, sank im Oktober von 10,7 auf 10,3 Millionen. Gleichzeitig verringerte sich die Zahl der im November neu geschaffenen Stellen. Soweit die „guten“ Nachrichten. Andererseits entstehen immer noch mehr Jobs als demographisch erforderlich wäre. Fed Chef Jerome Powell zitierte jüngst eine Schätzung, der zufolge 100.000 neue Stellen pro Monat ausreichen würden, um mit dem Bevölkerungswachstum mitzuhalten. Im Durchschnitt der vergangenen drei Monate entstanden aber rund 270.000 neue Jobs. Diese Diskrepanz hält den Druck auf die Löhne weiter aufrecht. Die durchschnittlichen Stundenlöhne stiegen im November um 5,1%, nachdem sie im Vormonat noch um 4,9% gewachsen waren. Aus Sicht der Arbeitnehmer eine erfreuliche Entwicklung, aber für die Inflationsaussichten etwas zu viel des Guten.
Die aktuelle Inflation in den USA hingegen verlangsamte sich im Oktober. Im Monatsvergleich, der einen Blick in die kurzfristige Dynamik gewährt, stiegen die Preise um nur noch 0,2%. Dies war weniger als erwartet und zudem der zweitkleinste Zuwachs in diesem Jahr. Im Jahresvergleich betrug die Teuerung, gemessen an der Kerninflation der persönlichen Konsumausgaben, nur noch 5%. Dies entspricht übrigens exakt dem Wert der Kerninflation der Eurozone.
Ähnlich zwiespältig wie die Arbeitsmarktdaten war auch der vielbeachtete Einkaufsmanagerindex für das amerikanische Dienstleistungsgewerbe, der vom Institute for Supply Management (ISM) veröffentlicht wird. Dieser stieg im November unerwartet auf den höchsten Stand seit Ende 2021 und signalisierte damit anhaltend robuste Nachfrage. Die Aktienmärkte reagierten auf diese „schlechte“ Nachricht prompt mit Kursverlusten. Doch für die Marktteilnehmer bot die Umfrage des ISM auch Erfreuliches. Der Druck auf die Lieferketten hatte demnach nachgelassen, der entsprechende Indikator fiel auf das geringste Niveau seit Februar 2020. Der Index der gezahlten Preise, ein Maß für die Herstellkosten der Unternehmen, erreichte den tiefsten Stand seit Mai 2020.
In Summe sollten diese Meldungen ausreichen, damit die Fed wie von Jerome Powell bereits angekündigt, auf ihrer Dezembersitzung die Leitzinsen nur noch um 50 Basispunkte erhöht statt wie zuvor um 75 Basispunkte. Um Zinssenkungsphantasien in 2023 keimen zu lassen, dafür reicht es allerdings noch nicht.
Ganz ähnlich wie der Fed geht es auch der EZB. Einige Notenbankmitglieder wie der irische Notenbankchef Gabriel Makhlouf und sein französischer Kollege Francois Villeroy de Galhau befürworten einen kleinen Zinsschritt von 50 Basispunkten auf der nächsten Sitzung in diesem Monat. Gleichzeitig unterstreicht die EZB, wie ernst es ihr mit dem Erreichen des 2% Inflationsziels ist. Diese magische Zahl soll Ende 2024 oder 2025 erreicht werden – und dies sei nicht nur eine Prognose, sondern eine „Verpflichtung“, wie Villeroy betont. Kurzfristig, also in den nächsten drei oder vier Monaten, wird die Teuerung auf dem aktuellen Niveau (von zuletzt 10%) verharren, warnt Vizepräsident Luis de Guindos. Eine echte Verlangsamung des Preisanstiegs werde man erst im ersten Quartal 2023 erleben.
Ein Grund, warum es eine Weile dauern wird, bis die Teuerung nachlässt, liegt daran, dass sich die Wirtschaft robuster als erwartet entwickelt. Die Arbeitslosenrate im Euroraum fiel im Oktober unerwartet auf 6,5%. Gleichzeitig zeigen Umfragen wie die der EU Kommission bezüglich Wirtschaftsvertrauen und die Investorenumfrage von Sentix aufkeimenden Optimismus. In Deutschland, das Schlusslicht in punkto Wachstumsperspektiven, stiegen die Auftragseingänge der Industrie im Oktober um 0,8% im Monatsvergleich. Zudem wurde der Vormonat nach oben korrigiert, soll heißen, die Lage der Orderbücher war weniger schlimm als anfänglich gemeldet. Diese positiven, aber aus Sicht der Marktteilnehmer negativen Meldungen, bedeuten wohl, dass die Notenbank noch weit davon entfernt ist, an ihrem geldpolitischen Kurs etwas zu ändern. Für eine Zinspause oder gar Zinssenkungen ist es noch viel zu früh. Herr Villerory hat die aktuelle Situation aus Sicht der EZB trefflich beschrieben. Die am 15. Dezember anstehende Sitzung beendet lediglich die erste Hälfte der geldpolitischen Normalisierung. In der darauffolgenden zweiten Hälfte werde es langsamer und flexibler weitergehen. Ereignislos, wie manches Spiel der WM in Katar, wird diese Halbzeit aber sicher nicht ausfallen.