Hotline:  089 588 055 491

KW 6/22 – Unser Chefvolkswirt kommentiert

Die vergangene Woche brachte mehrere Überraschungen. Der amerikanische Arbeitsmarkt zeigte sich in besserer Verfassung als erwartet und beflügelte damit die Zinsphantasie. Im Euroraum erwies sich die Inflation im Januar als unerwartet hoch. Und schließlich machte es den Eindruck, als hätte sich EZB Präsidentin Christine Lagarde von einer geldpolitischen Taube zu einem Falken gewandelt. Die Finanzmärkte haben diese Überraschungen entsprechend quittiert. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen erreichte mit 0,2% den höchsten Wert seit Januar 2019, während Anleihen mit fünfjähriger Restlaufzeit zum ersten Mal seit 2018 über der Nulllinie schlossen. Am europäischen Aktienmarkt beendete der EURO STOXX die fünfte Woche in Folge mit Kursverlusten.

 

Dass der amerikanische Arbeitsmarkt sich in besserer Verfassung befindet als erwartet, ist an und für sich eine gute Nachricht. Analysten hatten für den Monat Januar mit nur geringen oder gar negativen Stellenzuwächsen gerechnet. Dies hätte zur abnehmenden Arbeitsmarktdynamik in den davorliegenden Monaten gepasst. Aber auch zur populären These der „Great Resignation“, der zufolge amerikanische Arbeitnehmer scharenweise ihrem Arbeitgeber den Rücken kehren, um sich anderen Projekten zuzuwenden, sich selbst zu verwirklichen oder nach einem Job mit besseren Arbeitsbedingungen zu suchen. Genährt wurde die Sorge vor einem schwachen Arbeitsmarktbericht von der Firma ADP Research Institute. Diese meldete zwei Tage vor dem offiziellen Bericht, dass die Beschäftigung im Privatsektor im Januar um 301.000 zurückgegangen war.

 

Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Tatsächlich wurden fast eine halbe Million neuer Stellen geschaffen, mehr als irgendein Analyst vorhergesagt hatte. Und nicht nur das. Die Monate November und Dezember wurden im Rahmen der jährlichen Datenrevision um 709.000 nach oben korrigiert. Gleichzeitig ist die Zahl der offenen, also nicht besetzten Stellen aber immer noch so hoch, dass jeder Arbeitssuchende im Prinzip eine Arbeit finden könnte. Die natürliche Konsequenz dieser Konstellation ist anhaltender Lohndruck. Im Januar legten die durchschnittlichen Stundenlöhne um 5,7% zu (nach 4,9% im Vormonat) und übersteigen damit das Produktivitätswachstum bei Weitem.

 

Aus Sicht der US Notenbank Fed ist dies genau die Lohn-Preis-Spirale, vor der sie sich gefürchtet hatte. Jerome Powell, der Vorsitzende der Fed, dürfte sich daher darin bestätigt sehen, möglichst schnell die geldpolitische Normalisierung einzuleiten. An den Finanzmärkten wird für dieses Jahr mit fünf Zinsschritten gerechnet. Der Leitzins würde von seinem derzeitigen Niveau von 0,25% von März bis zum Jahresende auf 1,25% klettern. Für Mary Dale, Mitglied des Notenbankrats der Fed, wäre dies kein Problem. Sie zeigte sich zuversichtlich, dass die amerikanische Wirtschaft vier oder fünf Zinsschritte gut verdauen könnte ohne zu entgleisen. Berücksichtigt man, dass das neutrale Leitzinsniveau bei etwa 2,5% gesehen wird, würde die Notenbank trotz restriktiverer Geldpolitik immer noch den Arbeitsmarkt unterstützen, argumentierte Frau Dale.

 

Im Euroraum überraschte der Arbeitsmarkt ebenfalls positiv. Im Dezember war die Arbeitslosenrate von 7,1% auf den Rekordwert von 7,0% gefallen. Auf die Lohnentwicklung hat sich dies bisher kaum ausgewirkt. Im dritten Quartal 2021 stiegen die Löhne im Jahresvergleich um nur 1,4%. Doch dies könnte sich bald ändern.

 

In Deutschland hat die Ampelkoalition eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro je Stunde beschlossen. Dies entspräche zu Beginn des vierten Quartals einer Anhebung um ca. 25% im Vergleich zum Vorjahr. Von dieser würden nach Schätzungen der amerikanischen Citigroup rund 20% der Arbeitnehmer in Deutschland profitieren. Selbst wenn alle übrigen Arbeiter keine Lohnerhöhung in 2022 sehen würden, was recht unwahrscheinlich ist, würden rein rechnerisch die Löhne um 3% steigen. Moderate Lohnerhöhungen von rund 2,5% für alle Arbeitsnehmer außerhalb des Mindestlohnsektors unterstellt, betrüge der Anstieg der Löhne in diesem Jahr insgesamt etwa 5%. Das wäre so viel wie zuletzt Anfang der 90er Jahre.

 

Steigende Löhne dürften bei der EZB für Unbehagen sorgen, denn diese können die Inflation weiter anheizen. Im Januar befragte die Notenbank 74 große und im Euroraum tätige Unternehmen nach ihren Lohnerwartungen. Diese rechnen mit Anstiegen von 3% oder mehr in 2022, vor dem Hintergrund der hohen Inflation und der Schwierigkeiten, offene Stellen mit geeigneten Mitarbeitern zu besetzen. Dies wiederum stellt für die Notenbank ein zunehmendes Problem dar, nicht zuletzt, da die Inflation auch im vergangen Monat überraschend hoch ausgefallen war.

 

Die EZB betont regelmäßig, dass die hohe Inflation vorübergehender Natur und der Höchststand der Inflation zum Greifen nahe sei. Diesen Punkt wiederholte beispielsweise das litauische Ratsmitglied Anfang Februar und verwies auf abflachende Inflationszuwächse, etwa in Spanien und Deutschland. Doch dieses „Abflachen“ vollzieht sich langsamer als erwartet. Für den Euroraum hatten Analysten mit einem Rückgang der Inflation im Januar von 5% im Dezember auf 4,4% gerechnet. Tatsächlich stieg die Inflation aber weiter auf einen neuen Rekordwert von 5,1%. Im ersten Quartal dieses Jahres könnte der Preisanstieg die bisherigen Erwartungen der EZB vom vergangenen Dezember um rund einen Prozentpunkt übertreffen. EZB Präsidentin Christine Lagarde hat aber bereits durchblicken lassen, dass die Notenbank dabei ist, ihre Vorhersagen zu korrigieren. Wenn im März die neuen Prognosen vorgestellt werden, dürften die Inflationserwartungen deutlich höher ausfallen.

 

Bevor die Europäische Notenbank den Leitzins anhebt, möchte sie auf mittlere Sicht das Inflationsziel von 2% als erreicht sehen. Im Dezember war sie noch von 1,8% in 2023 und 2024 ausgegangen. Im März ist aber eine Korrektur auf 2% recht wahrscheinlich. Und so kam es zur anderen großen Überraschung der vergangenen Woche, nämlich der Verwandlung von Frau Lagarde zum geldpolitischen Falken. Statt wie zuvor eine Zinsanhebung bereits in 2022 als unwahrscheinlich anzusehen, wollte sie im Nachgang der Notenbanksitzung dies nicht mehr ausschließen. Die Finanzmärkte reagierten prompt und passten ihre Zinserwartungen entsprechend an. Nun rechnen sie damit, dass der Einlagensatz von aktuell -0,5% zum Jahresende hin bereits wieder bei null Prozent stehen wird.

 

Wie schnell die Zinsanpassung tatsächlich erfolgt, darüber herrscht im Notenbankrat noch keine Einigkeit. Während der niederländische Notenbankchef für den ersten Schritt im vierten Quartal plädierte, betonten seine Kollegen aus Spanien und Frankreich, dass die geldpolitische Normalisierung mit Vorsicht und schrittweise angegangen werden müsse. Wie ein Analyst eines schweizerischen Bankhauses süffisant kommentierte: „Wenn ein Gouverneur der Banco d’Espana eine Straffung der Geldpolitik unterstützt, und sei es auch nur ein nur eine graduelle, dann kann man sicher sein, dass sie auch kommen wird“. Die Zinsentscheidung der vergangenen Woche dürfte also nicht die letzte Überraschung in 2022 gewesen sein. Die nächste Sitzung der EZB am 10. März verspricht spannend zu werden.