Mit Christine Lagarde steht seit November 2019 zum ersten Mal seit Gründung der Europäischen Zentralbank eine Juristin und ehemalige Politikerin an ihrer Spitze. Die an sie gestellten Erwartungen sind hoch. Denn das Parkett für geldpolitische Aktivitäten hat sich während der letzten Dekade stark verändert: Die Weltwirtschaft erfährt eine Verringerung des Trendwachstums. Gleichzeitig sind die europäischen Volkswirtschaften durch Nachwehen der Finanzkrise und eine alternde Gesellschaft belastet. Zudem stellen sich Herausforderungen wie ökologische Nachhaltigkeit, voranschreitende Globalisierung, umfassender digitaler Umbruch sowie große Veränderungen in der Finanzwirtschaft. Daher beschloss der EZB-Rat nach dem Ausscheiden von Mario Draghi, unter neuer Führung, eine Überprüfung der geldpolitischen Strategie. Hierbei soll erörtert werden, ob der momentane strategische und institutionelle Rahmen weiterhin geeignet ist, um den schwierigen Umständen angemessen zu begegnen.
Primäre und sekundäre EZB-Ziele
Der letzte vergleichbare Check-up fand zum Amtsantritt von Jean-Claude Trichet im Jahr 2003 statt. Dieses Mal geht es primär um das Inflationsziel; dazu das geldpolitische Instrumentarium, die monetäre und wirtschaftliche Analyse sowie die EZB-Kommunikation. Themen wie Finanzstabilität, Arbeitslosigkeit und Umweltschutz sind als sekundäre Ziele ebenfalls Gegenstände der Überprüfung. Diese dürfen ebenso von der EZB verfolgt werden, da sie zur Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Union verpflichtet ist. Das oberste Ziel der EZB bleibt jedoch die Preisniveaustabilität.
Zwei Prozent – die Inflationsmarke
Bei Gründung der EZB im Jahr 1998 wurde ihr Inflationsziel „unter 2%“ definiert. Diese sehr vage Festlegung ist ein Relikt aus einer Zeit, in der ausschließlich eine zu hohe Inflationsrate als volkswirtschaftliches Problem angesehen wurde. Somit galt die Inflationsbekämpfung als vorrangige Aufgabe einer Zentralbank. Erst mit der Strategieüberprüfung 2003 wurde das Inflationsziel von der EZB selbst auf „unter, aber nahe 2%“ spezifiziert. Somit wurde der diskretionäre Spielraum der Geldpolitik eingeschränkt. Auf Grund der schwachen Eurozonen-Wachstumsdynamik, besteht heute eher das Problem einer zu geringen Inflation. Niedrige Inflationsraten bergen die Gefahr einer Deflationsspirale. Trotz aller Bemühungen der Währungshüter, die Teuerungsrate auf das anvisierte Niveau zu heben, lagen die Inflationsraten der letzten Jahre meist deutlich unter dem 2%-Ziel. Die EZB verursachte demnach erfolgreich Disinflation. Sie erreichte aber nicht ihr selbst gestelltes Inflationsziel. Dies blieb unter den Marktteilnehmern nicht unbemerkt; die Realisation des 2%-Ziels wurde hierdurch zusätzlich erschwert. Denn das Vertrauen in die „Forward Guidance“ einer Notenbank ist für die Inflationserwartungen (und damit indirekt für die Inflationssteuerung) von großer Bedeutung. Eine Neudefinition des Inflationsziels sollte helfen, verloren gegangenes Vertrauen in EZB-Maßnahmen wieder herzustellen. Dies könnte das Erreichen des 2%-Ziels erleichtern.
Breites Spektrum an Fachmeinungen
Die Expertenstandpunkte zu diesem Thema gehen auseinander. Der Bundesbankpräsident Jens Weidmann sieht keine Notwendigkeit für eine sofortige Änderung. Er sei aber offen für Vorschläge und Diskussionen. Der Präsident der österreichischen Nationalbank, Robert Holzmann, sprach sich für eine Reduzierung des Inflationsziels aus. Derweil forderte Benoit Coeure als ehemaliges EZB-Direktoriumsmitglied, ein 2%-Ziel mit einer symmetrischen Toleranz. Ebenso sei ein Inflationsband mit einer bestimmten Spannweite denkbar. Auch der frühere EZB-Präsident Mario Draghi hatte sich gegen Ende seiner Amtszeit wiederholt für eine Symmetrie der Zielsetzung stark gemacht. Ebenfalls zu seinem Mandatsende stellte Benoit Coeure die Frage, welches Inflationsmaß in Zukunft verwendet werden soll. Zur Berechnung der Eurozonen-Inflationsrate wird der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) herangezogen. Hierbei ist ein häufig angeführter Kritikpunkt: die signifikante Untergewichtung von Wohnkosten als bedeutenden Teil der Konsumausgaben.
EZB-Maßnahmen im Fokus
Das geldpolitische Instrumentarium der EZB umfasst momentan Negativzinsen, quantitative Lockerung und langfristige Kredite an Banken. Diese Maßnahmen stehen bereits seit längerer Zeit in der Kritik. Allerdings wurden sie zuletzt von Christine Lagarde verteidigt – wenn auch mit wenig Eifer. Der Zentralbankrat ist sich der Nebenwirkungen seiner angewendeten Mittel bewusst. So wurde eine Überprüfung der Instrumente ebenfalls in den Strategiecheck aufgenommen. Ein zusätzliches Instrument brachte Benoit Coeure ins Spiel; er schlug vor, dass Bürger direkt Konten bei der EZB halten können. Dies generiere einen neuen geldpolitischen Transmissionskanal, der den Bankensektor umgehen und im Fall negativer Schocks eine geldpolitische Lockerung vereinfachen kann.
Anleihenportfolio auf dem Prüfstand
In einer Anhörung vor dem europäischen Parlament verkündete Christine Lagarde, dass bei der strategischen Überprüfung auch die Zusammensetzung der Anleihekäufe thematisiert werde. Eine Veränderung des Anleiheportfolios in Richtung klimafreundlicher Anlagen wird von Experten kritisch gesehen. Zwar wäre die EZB hierzu gemäß den Statuten berechtigt, da sie damit die „allgemeine Wirtschaftspolitik der Union“ unterstützen würde. Jedoch befürchten Kritiker, dass ein Bedeutungsgewinn sekundärer Ziele die Endabsicht einer Preisniveaustabilität gefährdet. Die EZB kündigte an, ihre Möglichkeiten in diesem Feld zu untersuchen.
EZB Task Force „Digitalwährung“
Eine Task Force der EZB begann ihre Arbeit hinsichtlich Chancen und Risiken der Einführung einer Digitalwährung. Ein Vorteil wäre eine größere Geldgeschäft-Transparenz, welche die Strafverfolgung vereinfacht. Allerdings zeigten sich nationale Zentralbankgouverneure bisher von derartigen Vorstößen wenig überzeugt.
Eurozone und USA prüfen parallel
Der Abschluss der EZB-Strategieprüfung ist Ende 2020 geplant. Allerdings sind große Umbrüche nicht zu erwarten – auf Grund höchst unterschiedlicher Sichtweisen innerhalb des EZB-Rats. Ein symmetrisches Inflationsziel plus kleinere Veränderungen zu Kommunikation und Klimaschutz, sind der wahrscheinlichste Ausgang der Überprüfung. Ob diese Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ausreichen wird, um die EZB für zukünftige Herausforderungen zu wappnen, bleibt abzuwarten. Die Notenbank der USA führt gegenwärtig ebenfalls eine Strategieüberprüfung durch – und wird sie voraussichtlich vor der EZB abschließen. Dieses Ergebnis dürfte einen ersten Hinweis auf den Ausgang der europäischen Prüfung liefern.