Mit den Parlamentswahlen am 12. Dezember steht das Vereinigte Königreich wieder einmal vor einer wegweisenden Richtungsentscheidung. Es ist quasi eine Abstimmung zwischen den beiden großen Volksparteien, den konservativen Tories und der sozialdemokratischen Labour-Partei. Die Entscheidung wird großen Einfluss auf die EU-Relationen haben. De Facto stimmen die Briten also über ihre Beziehungen mit der Europäischen Union ab. (Auch wenn diese Frage nicht explizit auf dem Stimmzettel steht.) In der Tat scheinen die Briten dies zu wissen. Ihr Interesse an der Wahl ist groß: Die Electoral Reform Society verzeichnete mit 2,8 Millionen Anträgen seit Ende Oktober, einen „dramatischen Anstieg der registrierten Stimmen“ – rund eine Million mehr als im entsprechenden Zeitraum des letzten Wahljahres 2017.
Konservative: Brexit plus Steuersenkungen
Mittlerweile sind auch alle Wahlprogramme der großen Parteien veröffentlicht: Die Konservative Partei verpflichtet sich hier, Einkommenssteuer, Sozialversicherungsbeiträge und Mehrwertsteuer für fünf Jahre nicht zu erhöhen. Dazu macht sie eine Reihe kleinerer Ausgabenversprechen, in Höhe von GBP 3 Mrd. pro Jahr. Auf der Einnahmeseite belaufen sich die Steuersenkungen ebenfalls auf GBP 3 Mrd. Die öffentlichen Investitionen sollen gleichzeitig um GBP 8 Mrd. pro Jahr steigen. Geldgeschenke für die Wähler, scheinen das programmatische Gebot zu sein.
Hinsichtlich Brexit verpflichten sich die Konservativen, das Abkommen rechtzeitig zu verabschieden, um die EU am 31. Januar verlassen zu können. Außerdem schließen sie eine Verlängerung der Übergangsphase (zur Verhandlung eines Freihandelsabkommens mit der EU), über den 31. Dezember 2020 hinaus, kategorisch aus. Denn nach den Bestimmungen des kürzlich ausgehandelten Austrittsabkommens, müsste Großbritannien bis Ende Juni 2020 eine solche Verlängerung der Übergangsfrist beantragen. Dieser Fristverlängerungs-Ausschluss folgte interessanterweise nach Warnungen eines hochrangigen europäischen Beamten. Dies macht die Aushandlung eines Freihandelsabkommens in elf Monaten vermutlich unmöglich.
Labour will mehr Staat wagen
Gemäß dem Wahlprogramm der Labour-Partei, soll der Staat seine Rolle in der Wirtschaft weiter ausbauen. So sollen die jährlichen Steuereinnahmen um GBP 80 Mrd. pro Jahr erhöht werden – zur Finanzierung von Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Kredite. Zudem möchte Labour Wasser-, Energie-, Eisenbahn-, Post- und Breitbandunternehmen verstaatlichen. Nach einem möglichen Brexit, strebt die Labour-Party in Richtung einer engen Angleichung an den EU-Binnenmarkt, inklusive einer dauerhaften Zollunion. Das erneut verhandelte Austrittsabkommen will Labour, innerhalb von sechs Monaten, einem Referendum über den EU-Verbleib unterziehen.
Vieldeutige Prognosen zu UK-Wahlen
Im Durchschnitt der fünf jüngsten Wahlumfragen führen die Konservativen mit 43%, während Labour auf 30% kommt. Die Liberaldemokraten werden auf 14% geschätzt, die schottische SNP ebenso wie die Brexit Party auf 4%. Trotz deutlicher Umfrage-Führung der konservativen Partei, könnte ihr Leader Boris Johnson trotzdem als Verlierer aus der Wahl gehen: Erreicht seine Partei keine deutliche Mehrheit der Parlaments-Sitze, könnte sich Labour mit den kleineren Oppositionsparteien sowie möglichen konservativen Abweichlern verbünden – und erneut eine Blockade des ausgehandelten Abkommens erwirken.
Zudem ergeben sich evtl. noch Änderungen im Wahlverhalten, bis zum Termin im Dezember. Im Wahljahr 2017 erfolgte Labours Aufholjagd erst auf die Veröffentlichung der jeweiligen Partei-Programme. Die derzeit einzige aktuelle Meinungsumfrage „Nach-Veröffentlichung“, ergab eine starke Angleichung der Umfrageergebnisse zwischen den beiden großen Parteien. Zudem deuten die erwähnten hohen Registrierungszahlen (dabei sind zwei Drittel der neu registrierten Wähler unter 35 Jahre alt) darauf hin, dass die Opposition gegen die Konservativen robuster sein könnte als erwartet.
Schlüsselfrage: Handelsabkommen mit EU
Im Raum steht die Frage, ob die EU und das Vereinigte Königreich sich bis Ende 2020 auf ein Freihandelsabkommen verständigen werden. Erwartungen bzw. politische Versprechungen könnten überhöht und unrealistisch sein. Sollte zudem eine Verlängerung im Juni nicht stattfinden, würde dies zu erneuten „Hard-Brexit“ Ängsten zum Jahreswechsel 2020/2021 führen. Für diesen Fall warnte die Industriestaaten-Organisation OECD, dass das britische Bruttoinlandsprodukt in den ersten zwei Jahren um 2% bis 2.5% niedriger sein könnte. Dies würde zu einer Rezession führen, setzt man lediglich ein langsames Wachstum von 1% bzw. 1.2% in den nächsten beiden Jahren voraus (unter der Annahme eines geregelten Austritts).
Unklarheit erzeugt Unsicherheit
Sollten die Konservativen daran scheitern, eine komfortable Mehrheit im britischen Parlament zu erreichen, würde wohl eine lang andauernde Unsicherheit folgen. In diesem Fall möchte Labour-Chef Jeremy Corbyn das bereits angebahnte Austrittsabkommen neu verhandeln. Zwar würde diese Position eine deutlich nähere Anbindung Großbritanniens an die EU beinhalten. Jedoch nähmen Neuverhandlungen wohl wiederum einige Zeit und politische Willenskraft in Anspruch. Auch ein potentiell folgendes zweites Referendum über das neue Gesetzespaket könnte zusätzliche Unwägbarkeiten erzeugen. So ist es kaum vorhersehbar, wie das Wahlvolk in diesem Fall abstimmen würde.
Sicher ist nur: Die durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erzeugte Unsicherheit, wird sich so schnell nicht auflösen. Daraus resultieren weitreichende Konsequenzen für die Wirtschaft. Diese kann sich wohl auf alle Szenarien vorbereiten – vorausgesetzt es kommt bald Klarheit, worauf man sich überhaupt einstellen muss.