Daniel Bleiberg
Senior Economist
Wenn sich der Student der Volkswirtschaft zu Beginn seines Studiums mit Entscheidungen befasst – welcher Preis maximiert den Gewinn, welches Güterbündel maximiert den Nutzen des Haushalts – erscheint die Welt recht einfach. Der Entscheidungsträger kennt alle relevanten Fakten, analysiert diese nüchtern und wählt darauf aufbauend die optimale Handlung. Im echten Leben, und das weiß auch der VWL-Student im ersten Semester, sind die Dinge komplizierter. Diese Erkenntnis gilt nicht zuletzt auch für Notenbanken, deren Worte und Taten mit Argusaugen verfolgt werden. Denn ihre Entscheidungen beeinflussen das Wohl und Wehe der Konjunktur, ob die Finanzierung der eigenen Immobilie teurer oder billiger wird und auch welchen Preis die Finanzierung staatlicher Ausgaben haben wird.
Aber anders als in einfachen ökonomischen Modellen finden diese geldpolitischen Entscheidungen unter hoher Unsicherheit statt. Zum einen besteht Unsicherheit darüber, ob es überhaupt einen Grund zum Handeln gibt. Wir erinnern uns gut an die Debatte in 2021, als die Teuerungswelle ihren Anfang nahm. Damals wurde heiß diskutiert, ob der Preisanstieg vorrübergehender Natur war („transitorisch“) oder ein Eingreifen der Notenbanken erfordert. Die Mehrheit der Ökonomen und Geldpolitiker war anfänglich der Meinung, dass der Grund für den überraschenden Inflationsdruck Einmaleffekte waren, wie etwa der Wiederöffnung der Wirtschaft nach der Rücknahme pandemiebedingter Einschränkungen. Diese Sicht stellte sich im Nachhinein leider als falsch heraus.
Die Folge dieser Fehleinschätzung war, dass die Notenbanken zu spät auf den Inflationsschub reagierten und in diesem Jahr daher besonders stark an der Zinsschraube drehen mussten. So erhöhte die EZB innerhalb weniger Monate im Rekordtempo ihre Leitzinsen um 200 Basispunkte. Die nächste Sitzung steht am 15. Dezember an und dürfte mit einem weiteren Zinsschritt um wenigstens 50 Basispunkte enden. Der Chef der Österreichischen Notenbank, Robert Holzmann, plädiert sogar für 75 Basispunkte, da er noch keine Anzeichen für ein Nachlassen des Inflationsdrucks sieht.
Eine weitere Unsicherheit besteht darüber, mit welcher zeitlichen Verzögerung die Geldpolitik ihre Wirkung auf die Wirtschaft und damit auf die Inflation entfaltet. Diese Einsicht geht auf den berühmten Ökonom Milton Friedman zurück, der bereits in den 1960er Jahren über diese „langen und variablen“ Effekte der Geldpolitik publiziert hatte. Konkret bedeutet dies, dass Frau Christine Lagarde und ihre Kollegen im EZB Rat zum einen die aktuelle Inflation mit ihren geldpolitischen Entscheidungen nicht mehr beeinflussen können. Zum zweiten wissen sie nicht, wie viele Monate oder Quartale es dauern wird, bis eine Zinsanhebung im Dezember – seien es 50 oder 75 Basispunkte – zu einer geringeren Teuerung führt.
Dieses Problem der zeitlichen Verzögerung erklärt auch, warum das Ziel der Geldpolitik die Inflation auf mittlere Sicht ist, denn nur diese kann die Notenbank mit ihren Entscheidungen beeinflussen. Insofern kommt den Inflationsprognosen als Mittel der Kommunikation eine hohe Bedeutung zu. Aktuell geht die EZB davon aus, dass die Teuerung im nächsten Jahr langsam nachlässt und in 2024 bei 2,3% landen wird. Diese Prognose vom vergangenen September könnte sich bereits als zu optimistisch erweisen. So sagte EZB Chefvolkswirt Philip Lane in dieser Woche, dass die Inflationsprognose höher ausfallen dürfte. Das nächste Update dieser Vorhersagen steht im Dezember an. Welche Bedeutung diese haben, zeigt die jüngste Aussage des litauischen Ratsmitglied Gediminas Simkus. Er erklärte im Interview in dieser Woche, dass es ohne diese neuen Prognosen voreilig wäre, über den nächsten Zinsschritt zu sprechen.
Schließlich sind sich die Geldpolitiker auch darüber unsicher, in welchem Ausmaß ihre Zinsentscheidungen sich auf die Inflation und die Wirtschaft auswirken. Wie sehr steigt die Arbeitslosigkeit, wenn die Leitzinsen angehoben werden, und wie sehr sinkt deswegen der Inflationsdruck? Die Antwort darauf geben ökonomische Modelle. Ob die Antwort dieser Modelle zutrifft, hängt letztendlich von den zugrundeliegenden Modellannahmen ab. Und ob diese zutreffen, ist eben ungewiss. Falsche Annahmen führen daher zu fehlerhaften Prognosen und damit zu fehlerhaften geldpolitischen Entscheidungen. Diese Erfahrung musste die US Notenbank Fed unter ihrem Präsidenten Arthur Burns in den 1970er Jahren machen. Die Fehleinschätzung darüber, wie stark die amerikanische Wirtschaft wachsen konnte ohne Inflation zu erzeugen, führte dazu, dass die Fed die Leitzinsen zu langsam und zu wenig energisch anhob. Die Konsequenz war eine Inflationsspirale, die erst von Burns Nachfolger Paul Volcker zu Beginn der 1980er Jahr beendet wurde.
Angesichts all dieser Unwägbarkeiten stellt sich die Frage, wie eine Notenbank sich bei hoher Unsicherheit verhalten sollte. Auch darüber besteht – wie könnte es anders sein – Unsicherheit. Es gibt eine Denkschule, die bei hoher Unsicherheit für ein vorsichtiges Verhalten plädiert. So erklärte EZB Ratsmitglied Ignazio Visco Mitte November, dass exzessive schnelle und große Zinsschritte die Wirtschaft übermäßig treffen und letztendlich zu einer Inflation von deutlich unter 2% führen könnten. Ähnlich äußerte sich Ratsmitglied Fabio Panetta wenige Tage zuvor, als er für ein vorsichtiges Verhalten eintrat. Die Notenbank sollte die Lage sorgfältig analysieren und der „beispielslosen Unsicherheit“ Rechnung tragen um zu entscheiden, ob ein restriktiver Leitzins tatsächlich erforderlich sei. Zu hastige und fehlerhafte Entscheidungen könnten zu nachhaltigen Schäden für die Volkswirtschaft führen.
Die andere Denkschule betrachtet in unsicheren Zeiten die Konsequenzen der jeweiligen geldpolitischen Entscheidungen. Demnach wäre aus heutiger Sicht der langfristige Schaden einer zu lockeren Geldpolitik und daher ausufernder Inflation größer als im Fall einer zu straffen Geldpolitik. Denn wenn die Leitzinsen niedriger sind als es erforderlich wäre, könnten sich die Inflationserwartungen verselbstständigen und sich daraus eine Inflationsspirale entwickeln, die nur schwer wieder in den Griff zu bekommen ist. Umgekehrt, wenn die Geldpolitik restriktiver ist als es im Nachhinein geboten wäre, käme es vermutlich zu einer Rezession, dass übergeordnete Ziel der Preisstabilität bliebe aber gewahrt. Dies scheint die Sicht zu sein, die auch Christine Lagarde vertritt. So erklärte die EZB Präsidentin in der vergangenen Woche, dass zur Eindämmung der zweistelligen Inflation die Leitzinsen womöglich auf ein Niveau erhöht werden müssen, das die Konjunktur dämpft. Das Risiko einer Rezession habe zwar zugenommen, ein Abschwung allein werde jedoch nicht ausreichen, um die Teuerung zu bändigen, so Frau Lagarde.
Die Debatte zwischen diesen beiden Denkschulen dürfte in den nächsten Monaten weitergehen und könnte an Schärfe gewinnen, sollte sich die Konjunktur tatsächlich eintrüben, wie es die Mehrheit der Volkswirte erwartet. Die OECD rechnet in ihrem jüngst veröffentlichten Ausblick damit, dass der Hauptrefinanzierungssatz der EZB Mitte nächsten Jahres bei 4,5% stehen wird. Aktuell sind es 2,0%. Sollten die Zinsen tatsächlich so schnell und so hoch weiter ansteigen, wäre das ein Beleg dafür, dass die zweite Denkschule die intellektuelle Debatte vorerst für sich entschieden hat. Ob die Wirtschaft mit einem vorsichtigeren geldpolitischen Kurs nicht besser gefahren wäre, wird sich noch zeigen.